Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Michelet, Karl Ludwig: Die Lösung der gesellschaftlichen Frage. Frankfurt (Oder) u. a., 1849.

Bild:
<< vorherige Seite

Selbsterhaltung sehr in den Vordergrund getreten. Jst dieselbe
nun nicht in diesem Leben zu erlangen, so tritt sie in jenem Le-
ben ein. Der Arme kommt darum eher ins Himmelreich, als der
Reiche, weil er an seinen Duldungen sich einen Schatz im Jenseit
errungen. Nicht nur seine Arbeit, auch seine Thräne wird ihm vergolten.
Die Frage nach Festsetzung aller Werthe, welche die Staatswirth-
schaftslehrer nicht lösen konnten, ist gelöst. Vollkommene Vergel-
tung, vollkommene Gleichheit ist vorhanden. Die Entbehrung der
irdischen Güter ist eine Anweisung auf die himmlischen. Aber
wie ist es, wenn auch hier das Creditsystem nicht auf sicherer
Grundlage beruht? Werden die in dieser Welt gezogenen Wechsel
in jener angenommen? Und woher kommt es, daß die Priester,
welche doch vorzugsweise auf die himmlischen Güter Anspruch
haben, doch sich die Güter dieser Welt ganz wohl gefallen lassen,
ohne zu fürchten, daß sie in jenem Leben zu kurz kommen? Dem
Armen gegenüber befolgen sie ihre eigene Lehre nicht. Das ist die
Lüge jener Lösung. Die Vertröstung auf ein anderes Leben ist
ein Hirngespinnst. Wir wollen hier nicht die Haltbarkeit oder
Unhaltbarkeit eines solchen Daseins seiner innern Möglichkeit nach
untersuchen. Aber innerhalb des Staats wenigstens gehört dieser
Glaube nicht hin, -- die Staatswirthschaft ist nicht überfliegend, --
weil damit alle Niederträchtigkeit, alle Tyrannei, alle Unter-
drückung ihre Rechtfertigung fände. Die Unterdrücker im Staate
können dann sogar als die Werkzeuge der Vorsehung angesehen
werden, welche dem Menschen auf Erden Unglück zu bereiten ha-
ben, damit er dermaleinst der ewigen Seligkeit genieße, nachdem
er in der Prüfungszeit die Hiebe der Geißeln Gottes empfun-
den habe.

Ein Land kenne ich zwar, wo auch auf dieser Erde die
Widersprüche der Staatswirthschaft nicht das Elend zur Folge ge-
habt haben. Es ist Amerika, das Land jenseits des Meeres.
Hier hat die Arbeit den Genuß zum sicheren Lohn. Dies kommt
daher, weil die Bevölkerung eben im Verhältniß zum Boden noch
gar nicht übermäßig steigen kann, und ein Theil der Arbeit noch
durch Sklavenhände verrichtet wird, die Arbeitskraft der Freien
aber im Verhältniß zur Nachfrage immer noch selten ist. Die
Bevölkerung vermehrt sich zwar auch stets durch neue Ankömm-

Selbſterhaltung ſehr in den Vordergrund getreten. Jſt dieſelbe
nun nicht in dieſem Leben zu erlangen, ſo tritt ſie in jenem Le-
ben ein. Der Arme kommt darum eher ins Himmelreich, als der
Reiche, weil er an ſeinen Duldungen ſich einen Schatz im Jenſeit
errungen. Nicht nur ſeine Arbeit, auch ſeine Thräne wird ihm vergolten.
Die Frage nach Feſtſetzung aller Werthe, welche die Staatswirth-
ſchaftslehrer nicht löſen konnten, iſt gelöſt. Vollkommene Vergel-
tung, vollkommene Gleichheit iſt vorhanden. Die Entbehrung der
irdiſchen Güter iſt eine Anweiſung auf die himmliſchen. Aber
wie iſt es, wenn auch hier das Creditſyſtem nicht auf ſicherer
Grundlage beruht? Werden die in dieſer Welt gezogenen Wechſel
in jener angenommen? Und woher kommt es, daß die Prieſter,
welche doch vorzugsweiſe auf die himmliſchen Güter Anſpruch
haben, doch ſich die Güter dieſer Welt ganz wohl gefallen laſſen,
ohne zu fürchten, daß ſie in jenem Leben zu kurz kommen? Dem
Armen gegenüber befolgen ſie ihre eigene Lehre nicht. Das iſt die
Lüge jener Löſung. Die Vertröſtung auf ein anderes Leben iſt
ein Hirngeſpinnſt. Wir wollen hier nicht die Haltbarkeit oder
Unhaltbarkeit eines ſolchen Daſeins ſeiner innern Möglichkeit nach
unterſuchen. Aber innerhalb des Staats wenigſtens gehört dieſer
Glaube nicht hin, — die Staatswirthſchaft iſt nicht überfliegend, —
weil damit alle Niederträchtigkeit, alle Tyrannei, alle Unter-
drückung ihre Rechtfertigung fände. Die Unterdrücker im Staate
können dann ſogar als die Werkzeuge der Vorſehung angeſehen
werden, welche dem Menſchen auf Erden Unglück zu bereiten ha-
ben, damit er dermaleinſt der ewigen Seligkeit genieße, nachdem
er in der Prüfungszeit die Hiebe der Geißeln Gottes empfun-
den habe.

Ein Land kenne ich zwar, wo auch auf dieſer Erde die
Widerſprüche der Staatswirthſchaft nicht das Elend zur Folge ge-
habt haben. Es iſt Amerika, das Land jenſeits des Meeres.
Hier hat die Arbeit den Genuß zum ſicheren Lohn. Dies kommt
daher, weil die Bevölkerung eben im Verhältniß zum Boden noch
gar nicht übermäßig ſteigen kann, und ein Theil der Arbeit noch
durch Sklavenhände verrichtet wird, die Arbeitskraft der Freien
aber im Verhältniß zur Nachfrage immer noch ſelten iſt. Die
Bevölkerung vermehrt ſich zwar auch ſtets durch neue Ankömm-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0074" n="64"/>
Selb&#x017F;terhaltung &#x017F;ehr in den Vordergrund getreten. J&#x017F;t die&#x017F;elbe<lb/>
nun nicht in die&#x017F;em Leben zu erlangen, &#x017F;o tritt &#x017F;ie in jenem Le-<lb/>
ben ein. Der Arme kommt darum eher ins Himmelreich, als der<lb/>
Reiche, weil er an &#x017F;einen Duldungen &#x017F;ich einen Schatz im Jen&#x017F;eit<lb/>
errungen. Nicht nur &#x017F;eine Arbeit, auch &#x017F;eine Thräne wird ihm vergolten.<lb/>
Die Frage nach Fe&#x017F;t&#x017F;etzung aller Werthe, welche die Staatswirth-<lb/>
&#x017F;chaftslehrer nicht lö&#x017F;en konnten, i&#x017F;t gelö&#x017F;t. Vollkommene Vergel-<lb/>
tung, vollkommene Gleichheit i&#x017F;t vorhanden. Die Entbehrung der<lb/>
irdi&#x017F;chen Güter i&#x017F;t eine Anwei&#x017F;ung auf die himmli&#x017F;chen. Aber<lb/>
wie i&#x017F;t es, wenn auch hier das Credit&#x017F;y&#x017F;tem nicht auf &#x017F;icherer<lb/>
Grundlage beruht? Werden die in die&#x017F;er Welt gezogenen Wech&#x017F;el<lb/>
in jener angenommen? Und woher kommt es, daß die Prie&#x017F;ter,<lb/>
welche doch vorzugswei&#x017F;e auf die himmli&#x017F;chen Güter An&#x017F;pruch<lb/>
haben, doch &#x017F;ich die Güter die&#x017F;er Welt ganz wohl gefallen la&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
ohne zu fürchten, daß &#x017F;ie in jenem Leben zu kurz kommen? Dem<lb/>
Armen gegenüber befolgen &#x017F;ie ihre eigene Lehre nicht. Das i&#x017F;t die<lb/>
Lüge jener Lö&#x017F;ung. Die Vertrö&#x017F;tung auf ein anderes Leben i&#x017F;t<lb/>
ein Hirnge&#x017F;pinn&#x017F;t. Wir wollen hier nicht die Haltbarkeit oder<lb/>
Unhaltbarkeit eines &#x017F;olchen Da&#x017F;eins &#x017F;einer innern Möglichkeit nach<lb/>
unter&#x017F;uchen. Aber innerhalb des Staats wenig&#x017F;tens gehört die&#x017F;er<lb/>
Glaube nicht hin, &#x2014; die Staatswirth&#x017F;chaft i&#x017F;t nicht überfliegend, &#x2014;<lb/>
weil damit alle Niederträchtigkeit, alle Tyrannei, alle Unter-<lb/>
drückung ihre Rechtfertigung fände. Die Unterdrücker im Staate<lb/>
können dann &#x017F;ogar als die Werkzeuge der Vor&#x017F;ehung ange&#x017F;ehen<lb/>
werden, welche dem Men&#x017F;chen auf Erden Unglück zu bereiten ha-<lb/>
ben, damit er dermalein&#x017F;t der ewigen Seligkeit genieße, nachdem<lb/>
er in der Prüfungszeit die Hiebe der Geißeln Gottes empfun-<lb/>
den habe.</p><lb/>
          <p>Ein Land kenne ich zwar, wo auch auf die&#x017F;er Erde die<lb/>
Wider&#x017F;prüche der Staatswirth&#x017F;chaft nicht das Elend zur Folge ge-<lb/>
habt haben. Es i&#x017F;t <hi rendition="#g">Amerika,</hi> das Land jen&#x017F;eits des Meeres.<lb/>
Hier hat die Arbeit den Genuß zum &#x017F;icheren Lohn. Dies kommt<lb/>
daher, weil die Bevölkerung eben im Verhältniß zum Boden noch<lb/>
gar nicht übermäßig &#x017F;teigen kann, und ein Theil der Arbeit noch<lb/>
durch Sklavenhände verrichtet wird, die Arbeitskraft der Freien<lb/>
aber im Verhältniß zur Nachfrage immer noch &#x017F;elten i&#x017F;t. Die<lb/>
Bevölkerung vermehrt &#x017F;ich zwar auch &#x017F;tets durch neue Ankömm-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[64/0074] Selbſterhaltung ſehr in den Vordergrund getreten. Jſt dieſelbe nun nicht in dieſem Leben zu erlangen, ſo tritt ſie in jenem Le- ben ein. Der Arme kommt darum eher ins Himmelreich, als der Reiche, weil er an ſeinen Duldungen ſich einen Schatz im Jenſeit errungen. Nicht nur ſeine Arbeit, auch ſeine Thräne wird ihm vergolten. Die Frage nach Feſtſetzung aller Werthe, welche die Staatswirth- ſchaftslehrer nicht löſen konnten, iſt gelöſt. Vollkommene Vergel- tung, vollkommene Gleichheit iſt vorhanden. Die Entbehrung der irdiſchen Güter iſt eine Anweiſung auf die himmliſchen. Aber wie iſt es, wenn auch hier das Creditſyſtem nicht auf ſicherer Grundlage beruht? Werden die in dieſer Welt gezogenen Wechſel in jener angenommen? Und woher kommt es, daß die Prieſter, welche doch vorzugsweiſe auf die himmliſchen Güter Anſpruch haben, doch ſich die Güter dieſer Welt ganz wohl gefallen laſſen, ohne zu fürchten, daß ſie in jenem Leben zu kurz kommen? Dem Armen gegenüber befolgen ſie ihre eigene Lehre nicht. Das iſt die Lüge jener Löſung. Die Vertröſtung auf ein anderes Leben iſt ein Hirngeſpinnſt. Wir wollen hier nicht die Haltbarkeit oder Unhaltbarkeit eines ſolchen Daſeins ſeiner innern Möglichkeit nach unterſuchen. Aber innerhalb des Staats wenigſtens gehört dieſer Glaube nicht hin, — die Staatswirthſchaft iſt nicht überfliegend, — weil damit alle Niederträchtigkeit, alle Tyrannei, alle Unter- drückung ihre Rechtfertigung fände. Die Unterdrücker im Staate können dann ſogar als die Werkzeuge der Vorſehung angeſehen werden, welche dem Menſchen auf Erden Unglück zu bereiten ha- ben, damit er dermaleinſt der ewigen Seligkeit genieße, nachdem er in der Prüfungszeit die Hiebe der Geißeln Gottes empfun- den habe. Ein Land kenne ich zwar, wo auch auf dieſer Erde die Widerſprüche der Staatswirthſchaft nicht das Elend zur Folge ge- habt haben. Es iſt Amerika, das Land jenſeits des Meeres. Hier hat die Arbeit den Genuß zum ſicheren Lohn. Dies kommt daher, weil die Bevölkerung eben im Verhältniß zum Boden noch gar nicht übermäßig ſteigen kann, und ein Theil der Arbeit noch durch Sklavenhände verrichtet wird, die Arbeitskraft der Freien aber im Verhältniß zur Nachfrage immer noch ſelten iſt. Die Bevölkerung vermehrt ſich zwar auch ſtets durch neue Ankömm-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/michelet_loesung_1849
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/michelet_loesung_1849/74
Zitationshilfe: Michelet, Karl Ludwig: Die Lösung der gesellschaftlichen Frage. Frankfurt (Oder) u. a., 1849, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelet_loesung_1849/74>, abgerufen am 24.11.2024.