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Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.

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IV. Erholungs- u. Vergnügungsreisen -- sich einmal so recht auslaufen.
kaum bemerkte, ehedem aber mächtige, gefürchtete Menschen-
classe -- deren Hauptaufgabe zu sein schien, unsren Vor-
fahren das Reisen zu verleiden, Stetigkeit, Liebe zum häus-
lichen Herde und zum Vaterlande zu fördern -- war nämlich
verpflichtet, jedem, der die Absicht einer Ortsveränderung
kund gab und sich somit als Landstreicher verdächtigte, eine
Reihe von Fragen vorzulegen, darunter unbescheidene, zumal
für Damen peinliche. Die letzte Frage lautete stets: Zweck
der Reise, Geschäfte? -- Erfolgte darauf verneinende Ant-
wort, so wartete der Beamte, im Gegensatze zu seiner bis
dahin bewiesenen Gründlichkeit, keine weiteren Erklärungen
ab, sondern schrieb nach eigener Eingebung frischweg entweder
"Erholung" oder "Vergnügen". So geschah es denn be-
greiflicherweise oft, daß einer Reise, die recht eigentlich zur
Erholung dienen sollte, der amtliche Stempel als bloße Lust-
fahrt aufgedrückt und wer weiß, ob nicht mancher Paßinhaber
dadurch verführt wurde, sie auch als solche zu behandeln, was
zur weiteren Folge hatte, daß die Merkmale beider Begriffe
sich allgemach verwischten, ein Uebel, an dem noch ein Theil
unsrer Zeitgenossen siecht. Daß z. B. ein berliner Geheimer-
rath von seiner kurzen Urlaubszeit behufs einer Erholungs-
reise im Salzkammergute die Hälfte dem Studium der mün-
chener Bierhäuser und Galerien widmet, oder ein hamburger
Kaufmann, der zur Stärkung seiner Augen nach Appenzell
geschickt wird, anstatt dessen Wiesen den grünen Teppich in
Baden-Baden mit seinen gelben und weißen Blumen wochen-
lang besichtigt, und zahllose ähnliche Verstöße gehören ver-
muthlich unter die Nachwehen des alten Paßzwangs.

Was hier durch Säumigkeit, wird in anderen Fällen
durch Uebermaß des Eifers verfehlt. Ein sehr norddeutscher
Universitätslehrer machte einstmals, erzählte er mir selbst
einige Jahre später, die ganze Route bis Thun in einem Ruck.
Ich kam mit dem Vorsatz an, "mich nun einmal so recht aus-
zulaufen." Damit meinte ich nicht nur das ganze seit meiner
Studentenzeit aufgesammelte Deficit an Bewegung auf

IV. Erholungs- u. Vergnügungsreiſen — ſich einmal ſo recht auslaufen.
kaum bemerkte, ehedem aber mächtige, gefürchtete Menſchen-
claſſe — deren Hauptaufgabe zu ſein ſchien, unſren Vor-
fahren das Reiſen zu verleiden, Stetigkeit, Liebe zum häus-
lichen Herde und zum Vaterlande zu fördern — war nämlich
verpflichtet, jedem, der die Abſicht einer Ortsveränderung
kund gab und ſich ſomit als Landſtreicher verdächtigte, eine
Reihe von Fragen vorzulegen, darunter unbeſcheidene, zumal
für Damen peinliche. Die letzte Frage lautete ſtets: Zweck
der Reiſe, Geſchäfte? — Erfolgte darauf verneinende Ant-
wort, ſo wartete der Beamte, im Gegenſatze zu ſeiner bis
dahin bewieſenen Gründlichkeit, keine weiteren Erklärungen
ab, ſondern ſchrieb nach eigener Eingebung friſchweg entweder
„Erholung“ oder „Vergnügen“. So geſchah es denn be-
greiflicherweiſe oft, daß einer Reiſe, die recht eigentlich zur
Erholung dienen ſollte, der amtliche Stempel als bloße Luſt-
fahrt aufgedrückt und wer weiß, ob nicht mancher Paßinhaber
dadurch verführt wurde, ſie auch als ſolche zu behandeln, was
zur weiteren Folge hatte, daß die Merkmale beider Begriffe
ſich allgemach verwiſchten, ein Uebel, an dem noch ein Theil
unſrer Zeitgenoſſen ſiecht. Daß z. B. ein berliner Geheimer-
rath von ſeiner kurzen Urlaubszeit behufs einer Erholungs-
reiſe im Salzkammergute die Hälfte dem Studium der mün-
chener Bierhäuſer und Galerien widmet, oder ein hamburger
Kaufmann, der zur Stärkung ſeiner Augen nach Appenzell
geſchickt wird, anſtatt deſſen Wieſen den grünen Teppich in
Baden-Baden mit ſeinen gelben und weißen Blumen wochen-
lang beſichtigt, und zahlloſe ähnliche Verſtöße gehören ver-
muthlich unter die Nachwehen des alten Paßzwangs.

Was hier durch Säumigkeit, wird in anderen Fällen
durch Uebermaß des Eifers verfehlt. Ein ſehr norddeutſcher
Univerſitätslehrer machte einſtmals, erzählte er mir ſelbſt
einige Jahre ſpäter, die ganze Route bis Thun in einem Ruck.
Ich kam mit dem Vorſatz an, „mich nun einmal ſo recht aus-
zulaufen.“ Damit meinte ich nicht nur das ganze ſeit meiner
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[93/0107] IV. Erholungs- u. Vergnügungsreiſen — ſich einmal ſo recht auslaufen. kaum bemerkte, ehedem aber mächtige, gefürchtete Menſchen- claſſe — deren Hauptaufgabe zu ſein ſchien, unſren Vor- fahren das Reiſen zu verleiden, Stetigkeit, Liebe zum häus- lichen Herde und zum Vaterlande zu fördern — war nämlich verpflichtet, jedem, der die Abſicht einer Ortsveränderung kund gab und ſich ſomit als Landſtreicher verdächtigte, eine Reihe von Fragen vorzulegen, darunter unbeſcheidene, zumal für Damen peinliche. Die letzte Frage lautete ſtets: Zweck der Reiſe, Geſchäfte? — Erfolgte darauf verneinende Ant- wort, ſo wartete der Beamte, im Gegenſatze zu ſeiner bis dahin bewieſenen Gründlichkeit, keine weiteren Erklärungen ab, ſondern ſchrieb nach eigener Eingebung friſchweg entweder „Erholung“ oder „Vergnügen“. So geſchah es denn be- greiflicherweiſe oft, daß einer Reiſe, die recht eigentlich zur Erholung dienen ſollte, der amtliche Stempel als bloße Luſt- fahrt aufgedrückt und wer weiß, ob nicht mancher Paßinhaber dadurch verführt wurde, ſie auch als ſolche zu behandeln, was zur weiteren Folge hatte, daß die Merkmale beider Begriffe ſich allgemach verwiſchten, ein Uebel, an dem noch ein Theil unſrer Zeitgenoſſen ſiecht. Daß z. B. ein berliner Geheimer- rath von ſeiner kurzen Urlaubszeit behufs einer Erholungs- reiſe im Salzkammergute die Hälfte dem Studium der mün- chener Bierhäuſer und Galerien widmet, oder ein hamburger Kaufmann, der zur Stärkung ſeiner Augen nach Appenzell geſchickt wird, anſtatt deſſen Wieſen den grünen Teppich in Baden-Baden mit ſeinen gelben und weißen Blumen wochen- lang beſichtigt, und zahlloſe ähnliche Verſtöße gehören ver- muthlich unter die Nachwehen des alten Paßzwangs. Was hier durch Säumigkeit, wird in anderen Fällen durch Uebermaß des Eifers verfehlt. Ein ſehr norddeutſcher Univerſitätslehrer machte einſtmals, erzählte er mir ſelbſt einige Jahre ſpäter, die ganze Route bis Thun in einem Ruck. Ich kam mit dem Vorſatz an, „mich nun einmal ſo recht aus- zulaufen.“ Damit meinte ich nicht nur das ganze ſeit meiner Studentenzeit aufgeſammelte Deficit an Bewegung auf

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Zitationshilfe: Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/107>, abgerufen am 24.11.2024.