Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.

Bild:
<< vorherige Seite

V. Musikalische Drangsale -- Lenz und Frühsommer.
dern, wenn sie, von dem leidigen Vorurtheil ablassend, daß
selbst die schlechteste Musik immer noch besser sei, als keine,
vorläufig ganz auf Orchester verzichteten und die ersparte
Summe nützlich anwendeten. Ein einziger Gast, der den
Ort befriedigt verläßt, ist eine wirksamere Reclame für ihn,
als alle Instrumentaleffecte der Musikbanden (und der Zei-
tungsanzeigen). Jene Vorstände bedenken nicht, daß unter
den Ankömmlingen Viele sind, die verwöhnte, empfindliche
Ohren mitbringen, musikalische Genüsse und Drangsale den
ganzen Winter hindurch zur Genüge gehabt haben, einschließ-
lich der beiden Klaviere im oberen und unteren Stockwerk
ihres Hauses, auf denen Kinder und Erwachsene ihre Finger
und die Geduld der übrigen Hausbewohner Tag für Tag
bis zur Erschöpfung übten; sie bedenken nicht, daß sie an der
Wohlfahrt ihres Landes einen Frevel begehen, wenn sie hart-
schaffende Leute, Hände, die für nützliche und ehrenwerthe
Arbeiten am Ambos, in der Scheune und am Pfluge geboren
und erzogen sind, diesen entfremden und sie verleiten, mehre
Tagesstunden durch Posaunen, Trompeten, Hörner und Kla-
rinetten schnöde in den Wind zu blasen, was überdies nur zu
oft auf ihr ferneres Leben den Einfluß hat, wie wenn junge
Mädchen sich einer Seiltänzerbande anschließen oder Kellne-
rinnen in einer Branntweinschenke werden -- ganz zu ge-
schweigen des Klangs der Instrumente und der Wahl der
Tonstücke! -- Auch bessere Gartenorchester sollten stets so
angebracht sein, daß Jeder ihre unmittelbarste Nähe meiden
kann.

In Bädern, die schon auf einer höheren Entwickelungs-
stufe stehen und im Hochsommer überfüllt sind, wissen die
Inserate der Vorstände in der beredtesten Weise die Reize
ihres Lenzes und Frühsommers zu schildern und zu ihrem
Genuß die erholungsbedürftige Menschheit einzuladen. Leider
vergessen sie aber -- wie es zerstreuten Ehemännern begegnet,
die, ohne ihre Frauen vorher zu benachrichtigen, zu deren
Schrecken und Betrübniß plötzlich Freunde mit zu Tisch

8

V. Muſikaliſche Drangſale — Lenz und Frühſommer.
dern, wenn ſie, von dem leidigen Vorurtheil ablaſſend, daß
ſelbſt die ſchlechteſte Muſik immer noch beſſer ſei, als keine,
vorläufig ganz auf Orcheſter verzichteten und die erſparte
Summe nützlich anwendeten. Ein einziger Gaſt, der den
Ort befriedigt verläßt, iſt eine wirkſamere Reclame für ihn,
als alle Inſtrumentaleffecte der Muſikbanden (und der Zei-
tungsanzeigen). Jene Vorſtände bedenken nicht, daß unter
den Ankömmlingen Viele ſind, die verwöhnte, empfindliche
Ohren mitbringen, muſikaliſche Genüſſe und Drangſale den
ganzen Winter hindurch zur Genüge gehabt haben, einſchließ-
lich der beiden Klaviere im oberen und unteren Stockwerk
ihres Hauſes, auf denen Kinder und Erwachſene ihre Finger
und die Geduld der übrigen Hausbewohner Tag für Tag
bis zur Erſchöpfung übten; ſie bedenken nicht, daß ſie an der
Wohlfahrt ihres Landes einen Frevel begehen, wenn ſie hart-
ſchaffende Leute, Hände, die für nützliche und ehrenwerthe
Arbeiten am Ambos, in der Scheune und am Pfluge geboren
und erzogen ſind, dieſen entfremden und ſie verleiten, mehre
Tagesſtunden durch Poſaunen, Trompeten, Hörner und Kla-
rinetten ſchnöde in den Wind zu blaſen, was überdies nur zu
oft auf ihr ferneres Leben den Einfluß hat, wie wenn junge
Mädchen ſich einer Seiltänzerbande anſchließen oder Kellne-
rinnen in einer Branntweinſchenke werden — ganz zu ge-
ſchweigen des Klangs der Inſtrumente und der Wahl der
Tonſtücke! — Auch beſſere Gartenorcheſter ſollten ſtets ſo
angebracht ſein, daß Jeder ihre unmittelbarſte Nähe meiden
kann.

In Bädern, die ſchon auf einer höheren Entwickelungs-
ſtufe ſtehen und im Hochſommer überfüllt ſind, wiſſen die
Inſerate der Vorſtände in der beredteſten Weiſe die Reize
ihres Lenzes und Frühſommers zu ſchildern und zu ihrem
Genuß die erholungsbedürftige Menſchheit einzuladen. Leider
vergeſſen ſie aber — wie es zerſtreuten Ehemännern begegnet,
die, ohne ihre Frauen vorher zu benachrichtigen, zu deren
Schrecken und Betrübniß plötzlich Freunde mit zu Tiſch

8
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0127" n="113"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">V.</hi> Mu&#x017F;ikali&#x017F;che Drang&#x017F;ale &#x2014; Lenz und Früh&#x017F;ommer.</fw><lb/>
dern, wenn &#x017F;ie, von dem leidigen Vorurtheil abla&#x017F;&#x017F;end, daß<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t die &#x017F;chlechte&#x017F;te <hi rendition="#g">Mu&#x017F;ik</hi> immer noch be&#x017F;&#x017F;er &#x017F;ei, als keine,<lb/>
vorläufig ganz auf Orche&#x017F;ter verzichteten und die er&#x017F;parte<lb/>
Summe nützlich anwendeten. Ein einziger Ga&#x017F;t, der den<lb/>
Ort befriedigt verläßt, i&#x017F;t eine wirk&#x017F;amere Reclame für ihn,<lb/>
als alle In&#x017F;trumentaleffecte der Mu&#x017F;ikbanden (und der Zei-<lb/>
tungsanzeigen). Jene Vor&#x017F;tände bedenken nicht, daß unter<lb/>
den Ankömmlingen Viele &#x017F;ind, die verwöhnte, empfindliche<lb/>
Ohren mitbringen, mu&#x017F;ikali&#x017F;che Genü&#x017F;&#x017F;e und Drang&#x017F;ale den<lb/>
ganzen Winter hindurch zur Genüge gehabt haben, ein&#x017F;chließ-<lb/>
lich der beiden Klaviere im oberen und unteren Stockwerk<lb/>
ihres Hau&#x017F;es, auf denen Kinder und Erwach&#x017F;ene ihre Finger<lb/>
und die Geduld der übrigen Hausbewohner Tag für Tag<lb/>
bis zur Er&#x017F;chöpfung übten; &#x017F;ie bedenken nicht, daß &#x017F;ie an der<lb/>
Wohlfahrt ihres Landes einen Frevel begehen, wenn &#x017F;ie hart-<lb/>
&#x017F;chaffende Leute, Hände, die für nützliche und ehrenwerthe<lb/>
Arbeiten am Ambos, in der Scheune und am Pfluge geboren<lb/>
und erzogen &#x017F;ind, die&#x017F;en entfremden und &#x017F;ie verleiten, mehre<lb/>
Tages&#x017F;tunden durch Po&#x017F;aunen, Trompeten, Hörner und Kla-<lb/>
rinetten &#x017F;chnöde in den Wind zu bla&#x017F;en, was überdies nur zu<lb/>
oft auf ihr ferneres Leben den Einfluß hat, wie wenn junge<lb/>
Mädchen &#x017F;ich einer Seiltänzerbande an&#x017F;chließen oder Kellne-<lb/>
rinnen in einer Branntwein&#x017F;chenke werden &#x2014; ganz zu ge-<lb/>
&#x017F;chweigen des Klangs der In&#x017F;trumente und der Wahl der<lb/>
Ton&#x017F;tücke! &#x2014; Auch be&#x017F;&#x017F;ere Gartenorche&#x017F;ter &#x017F;ollten &#x017F;tets &#x017F;o<lb/>
angebracht &#x017F;ein, daß Jeder ihre unmittelbar&#x017F;te Nähe meiden<lb/>
kann.</p><lb/>
        <p>In Bädern, die &#x017F;chon auf einer höheren Entwickelungs-<lb/>
&#x017F;tufe &#x017F;tehen und im Hoch&#x017F;ommer überfüllt &#x017F;ind, wi&#x017F;&#x017F;en die<lb/>
In&#x017F;erate der Vor&#x017F;tände in der beredte&#x017F;ten Wei&#x017F;e die Reize<lb/>
ihres Lenzes und Früh&#x017F;ommers zu &#x017F;childern und zu ihrem<lb/>
Genuß die erholungsbedürftige Men&#x017F;chheit einzuladen. Leider<lb/>
verge&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ie aber &#x2014; wie es zer&#x017F;treuten Ehemännern begegnet,<lb/>
die, ohne ihre Frauen vorher zu benachrichtigen, zu deren<lb/>
Schrecken und Betrübniß plötzlich Freunde mit zu Ti&#x017F;ch<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">8</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[113/0127] V. Muſikaliſche Drangſale — Lenz und Frühſommer. dern, wenn ſie, von dem leidigen Vorurtheil ablaſſend, daß ſelbſt die ſchlechteſte Muſik immer noch beſſer ſei, als keine, vorläufig ganz auf Orcheſter verzichteten und die erſparte Summe nützlich anwendeten. Ein einziger Gaſt, der den Ort befriedigt verläßt, iſt eine wirkſamere Reclame für ihn, als alle Inſtrumentaleffecte der Muſikbanden (und der Zei- tungsanzeigen). Jene Vorſtände bedenken nicht, daß unter den Ankömmlingen Viele ſind, die verwöhnte, empfindliche Ohren mitbringen, muſikaliſche Genüſſe und Drangſale den ganzen Winter hindurch zur Genüge gehabt haben, einſchließ- lich der beiden Klaviere im oberen und unteren Stockwerk ihres Hauſes, auf denen Kinder und Erwachſene ihre Finger und die Geduld der übrigen Hausbewohner Tag für Tag bis zur Erſchöpfung übten; ſie bedenken nicht, daß ſie an der Wohlfahrt ihres Landes einen Frevel begehen, wenn ſie hart- ſchaffende Leute, Hände, die für nützliche und ehrenwerthe Arbeiten am Ambos, in der Scheune und am Pfluge geboren und erzogen ſind, dieſen entfremden und ſie verleiten, mehre Tagesſtunden durch Poſaunen, Trompeten, Hörner und Kla- rinetten ſchnöde in den Wind zu blaſen, was überdies nur zu oft auf ihr ferneres Leben den Einfluß hat, wie wenn junge Mädchen ſich einer Seiltänzerbande anſchließen oder Kellne- rinnen in einer Branntweinſchenke werden — ganz zu ge- ſchweigen des Klangs der Inſtrumente und der Wahl der Tonſtücke! — Auch beſſere Gartenorcheſter ſollten ſtets ſo angebracht ſein, daß Jeder ihre unmittelbarſte Nähe meiden kann. In Bädern, die ſchon auf einer höheren Entwickelungs- ſtufe ſtehen und im Hochſommer überfüllt ſind, wiſſen die Inſerate der Vorſtände in der beredteſten Weiſe die Reize ihres Lenzes und Frühſommers zu ſchildern und zu ihrem Genuß die erholungsbedürftige Menſchheit einzuladen. Leider vergeſſen ſie aber — wie es zerſtreuten Ehemännern begegnet, die, ohne ihre Frauen vorher zu benachrichtigen, zu deren Schrecken und Betrübniß plötzlich Freunde mit zu Tiſch 8

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/127
Zitationshilfe: Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/127>, abgerufen am 21.11.2024.