Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.V. Gesunder Menschenverstand -- Tagesordnung -- wie geht's Ihnen? er sich auf Krücken einher, muß er im Handwagen gefahrenwerden oder stehen ihm seine Gebreste mit großer Schrift im Gesicht geschrieben, so weicht man ihm theils schon von Weitem aus, "um sich nicht niederdrücken zu lassen", theils bekommt er Mienen zu sehen und Aeußerungen zu hören, die wenig geeignet sind, ihm wohlzuthun, denn auch das un- geheuchelte Mitgefühl ist nicht immer mit Zartgefühl gepaart, und Achtung findet das Unglück fast nur, wenn es malerisch costümirt ist. Das eigentlichste Unglück aber, das bohrende Gefühl der Trostlosigkeit, das nach jeder Unterbrechung mit neugeschärftem Stachel wiederkehrt, wohnt in der That weit minder bei dieser Classe der "schwer Leidenden", als bei jener anderen, den Nervösen. Sie sehen aus und gehen einher, wie alle Welt aussieht und einhergeht, in guten Stunden können sie aufgeräumt sein, Essen und Trinken schmeckt ihnen, Nahrungssorgen haben sie nicht, dennoch läßt sich erkennen, daß es ihnen sehr übel zu Muthe ist: folglich müssen sie ohne Unterschied Menschen sein, die selbst nicht wissen, was ihnen fehlt und was sie wollen, wunderliche Käuze, eingebildete Kranke, Sonderlinge, Hypochonder. -- So urtheilt der "gesunde Menschenverstand", d. h. der Ver- stand gesunder Menschen, welcher rasch fertig ist mit dem Wort und Jeden absurd findet, der nicht seine Ansicht theilt, der es auch in der Regel für seine Pflicht erachtet, dieser "abgeschmackten Gespensterseherei" dadurch entgegenzuarbeiten, daß er seinen Unglauben an die thatsächliche Begründung jenes Wehgefühls offen zur Schau trägt und dasselbe als eine Unwürdigkeit und Lächerlichkeit behandelt. Schon die Allerweltsfragen: "wie geht's Ihnen?", "wie V. Geſunder Menſchenverſtand — Tagesordnung — wie geht’s Ihnen? er ſich auf Krücken einher, muß er im Handwagen gefahrenwerden oder ſtehen ihm ſeine Gebreſte mit großer Schrift im Geſicht geſchrieben, ſo weicht man ihm theils ſchon von Weitem aus, „um ſich nicht niederdrücken zu laſſen“, theils bekommt er Mienen zu ſehen und Aeußerungen zu hören, die wenig geeignet ſind, ihm wohlzuthun, denn auch das un- geheuchelte Mitgefühl iſt nicht immer mit Zartgefühl gepaart, und Achtung findet das Unglück faſt nur, wenn es maleriſch coſtümirt iſt. Das eigentlichſte Unglück aber, das bohrende Gefühl der Troſtloſigkeit, das nach jeder Unterbrechung mit neugeſchärftem Stachel wiederkehrt, wohnt in der That weit minder bei dieſer Claſſe der „ſchwer Leidenden“, als bei jener anderen, den Nervöſen. Sie ſehen aus und gehen einher, wie alle Welt ausſieht und einhergeht, in guten Stunden können ſie aufgeräumt ſein, Eſſen und Trinken ſchmeckt ihnen, Nahrungsſorgen haben ſie nicht, dennoch läßt ſich erkennen, daß es ihnen ſehr übel zu Muthe iſt: folglich müſſen ſie ohne Unterſchied Menſchen ſein, die ſelbſt nicht wiſſen, was ihnen fehlt und was ſie wollen, wunderliche Käuze, eingebildete Kranke, Sonderlinge, Hypochonder. — So urtheilt der „geſunde Menſchenverſtand“, d. h. der Ver- ſtand geſunder Menſchen, welcher raſch fertig iſt mit dem Wort und Jeden abſurd findet, der nicht ſeine Anſicht theilt, der es auch in der Regel für ſeine Pflicht erachtet, dieſer „abgeſchmackten Geſpenſterſeherei“ dadurch entgegenzuarbeiten, daß er ſeinen Unglauben an die thatſächliche Begründung jenes Wehgefühls offen zur Schau trägt und daſſelbe als eine Unwürdigkeit und Lächerlichkeit behandelt. 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So verbreitet die Meinung auch iſt, daß „laute<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [121/0135]
V. Geſunder Menſchenverſtand — Tagesordnung — wie geht’s Ihnen?
er ſich auf Krücken einher, muß er im Handwagen gefahren
werden oder ſtehen ihm ſeine Gebreſte mit großer Schrift im
Geſicht geſchrieben, ſo weicht man ihm theils ſchon von
Weitem aus, „um ſich nicht niederdrücken zu laſſen“, theils
bekommt er Mienen zu ſehen und Aeußerungen zu hören,
die wenig geeignet ſind, ihm wohlzuthun, denn auch das un-
geheuchelte Mitgefühl iſt nicht immer mit Zartgefühl gepaart,
und Achtung findet das Unglück faſt nur, wenn es maleriſch
coſtümirt iſt. Das eigentlichſte Unglück aber, das bohrende
Gefühl der Troſtloſigkeit, das nach jeder Unterbrechung mit
neugeſchärftem Stachel wiederkehrt, wohnt in der That
weit minder bei dieſer Claſſe der „ſchwer Leidenden“, als bei
jener anderen, den Nervöſen. Sie ſehen aus und gehen
einher, wie alle Welt ausſieht und einhergeht, in guten
Stunden können ſie aufgeräumt ſein, Eſſen und Trinken
ſchmeckt ihnen, Nahrungsſorgen haben ſie nicht, dennoch
läßt ſich erkennen, daß es ihnen ſehr übel zu Muthe iſt:
folglich müſſen ſie ohne Unterſchied Menſchen ſein, die ſelbſt
nicht wiſſen, was ihnen fehlt und was ſie wollen, wunderliche
Käuze, eingebildete Kranke, Sonderlinge, Hypochonder. —
So urtheilt der „geſunde Menſchenverſtand“, d. h. der Ver-
ſtand geſunder Menſchen, welcher raſch fertig iſt mit dem
Wort und Jeden abſurd findet, der nicht ſeine Anſicht theilt,
der es auch in der Regel für ſeine Pflicht erachtet, dieſer
„abgeſchmackten Geſpenſterſeherei“ dadurch entgegenzuarbeiten,
daß er ſeinen Unglauben an die thatſächliche Begründung
jenes Wehgefühls offen zur Schau trägt und daſſelbe als eine
Unwürdigkeit und Lächerlichkeit behandelt.
Schon die Allerweltsfragen: „wie geht’s Ihnen?“, „wie
haben Sie geſchlafen?“ ſollten an Leidende der Art nicht ge-
richtet, ſondern durch irgend einen andern Gemeinplatz oder
einen Scherz erſetzt werden, der Gelegenheit gibt zur An-
knüpfung einer Unterhaltung über beliebte Gegenſtände.
Denn was ſollen ſie antworten auf die verhängnißvollen
Fragen? So verbreitet die Meinung auch iſt, daß „laute
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