Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.

Bild:
<< vorherige Seite

III. Zur Kleiderordnung -- eine Lebensrettung.
Ziel nie kurz vor die Abreise gesteckt, sondern stets ein Respect-
tag in die Rechnung aufgenommen. Gesagt, gethan. Hat
man auf einer kleineren Excursion sich nicht gehörig vor-
gesehen, z. B. auf einen heißen Tag gekleidet, und es thut sich
plötzlich ein eisiger Nordost auf, so wird das nächste Bauern-
haus, eine Sennhütte, Felshöhle, Gebüsch oder sonstiges ge-
schütztes Plätzchen aufgesucht, die Reisetasche geöffnet, das
Nachthemd unter das Oberhemd und was sie sonst noch
etwa hergibt, angezogen, z. B. ein Taschentuch über den
Baumwollstrumpf geschlagen u. dergl. m. Strenge Kleider-
ordnung ist überhaupt nicht aufrecht zu halten, der Codex
turisticus
gestattet sogar als Nothwehr schwere Gewaltthaten.
Einen Commentar zu diesem Paragraphen mag folgendes
Geschichtchen liefern.

Vor geraumer Zeit machte gleichzeitig mit mir die Tour
über's Stilfser Joch ein junges Ehepaar, um den Comersee
zu besuchen. Wir waren zusammen in Meran bei herrlichem
Wetter in den Wagen gestiegen, je mehr wir uns aber dem
Paß näherten, je rauher wurde es. Das Gespräch stockte,
die Gesichter erbleichten, die Nasen errötheten. Der Mann,
der am meisten fror, war leicht gekleidet und hatte, obwohl
offenbar kränklich, wie sich später ergab, im Rausche des
Flitterwochenglücks, sein ganzes Gepäck vorausgeschickt, und
bei sich außer seiner Liebe nur Kleinigkeiten, z. B. ein Thermo-
meterchen, das zwei Grad über Null nachwies, und eine
Taschenausgabe von Seneca. Nicht einmal mit einem Plaid
war der Unbesonnene versehen! Weder die Philosophie des
Hispaniers, noch die Pracht der uns umgebenden Bergland-
schaft konnte ihn vom Zähneklappern abhalten. Wir waren
jetzt oberhalb Trafoi, von menschlicher Hilfe weit entfernt.
Auf Seite des Weibleins verstohlenes Weinen über das Leid
und die Gefahr des Gatten, denn sie selbst versicherte, nichts
von Kälte zu spüren, nur "ein bischen" kalte Füße. Meinen
Vorrath von schlechten Wärmeleitern hatte ich bereits im
eigenen Nutzen ziemlich erschöpft, und von verfügbaren fanden

III. Zur Kleiderordnung — eine Lebensrettung.
Ziel nie kurz vor die Abreiſe geſteckt, ſondern ſtets ein Reſpect-
tag in die Rechnung aufgenommen. Geſagt, gethan. Hat
man auf einer kleineren Excurſion ſich nicht gehörig vor-
geſehen, z. B. auf einen heißen Tag gekleidet, und es thut ſich
plötzlich ein eiſiger Nordoſt auf, ſo wird das nächſte Bauern-
haus, eine Sennhütte, Felshöhle, Gebüſch oder ſonſtiges ge-
ſchütztes Plätzchen aufgeſucht, die Reiſetaſche geöffnet, das
Nachthemd unter das Oberhemd und was ſie ſonſt noch
etwa hergibt, angezogen, z. B. ein Taſchentuch über den
Baumwollſtrumpf geſchlagen u. dergl. m. Strenge Kleider-
ordnung iſt überhaupt nicht aufrecht zu halten, der Codex
turisticus
geſtattet ſogar als Nothwehr ſchwere Gewaltthaten.
Einen Commentar zu dieſem Paragraphen mag folgendes
Geſchichtchen liefern.

Vor geraumer Zeit machte gleichzeitig mit mir die Tour
über’s Stilfſer Joch ein junges Ehepaar, um den Comerſee
zu beſuchen. Wir waren zuſammen in Meran bei herrlichem
Wetter in den Wagen geſtiegen, je mehr wir uns aber dem
Paß näherten, je rauher wurde es. Das Geſpräch ſtockte,
die Geſichter erbleichten, die Naſen errötheten. Der Mann,
der am meiſten fror, war leicht gekleidet und hatte, obwohl
offenbar kränklich, wie ſich ſpäter ergab, im Rauſche des
Flitterwochenglücks, ſein ganzes Gepäck vorausgeſchickt, und
bei ſich außer ſeiner Liebe nur Kleinigkeiten, z. B. ein Thermo-
meterchen, das zwei Grad über Null nachwies, und eine
Taſchenausgabe von Seneca. Nicht einmal mit einem Plaid
war der Unbeſonnene verſehen! Weder die Philoſophie des
Hispaniers, noch die Pracht der uns umgebenden Bergland-
ſchaft konnte ihn vom Zähneklappern abhalten. Wir waren
jetzt oberhalb Trafoi, von menſchlicher Hilfe weit entfernt.
Auf Seite des Weibleins verſtohlenes Weinen über das Leid
und die Gefahr des Gatten, denn ſie ſelbſt verſicherte, nichts
von Kälte zu ſpüren, nur „ein bischen“ kalte Füße. Meinen
Vorrath von ſchlechten Wärmeleitern hatte ich bereits im
eigenen Nutzen ziemlich erſchöpft, und von verfügbaren fanden

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0044" n="30"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">III.</hi> Zur Kleiderordnung &#x2014; eine Lebensrettung.</fw><lb/>
Ziel nie kurz vor die Abrei&#x017F;e ge&#x017F;teckt, &#x017F;ondern &#x017F;tets ein Re&#x017F;pect-<lb/>
tag in die Rechnung aufgenommen. Ge&#x017F;agt, gethan. Hat<lb/>
man auf einer kleineren Excur&#x017F;ion &#x017F;ich nicht gehörig vor-<lb/>
ge&#x017F;ehen, z. B. auf einen heißen Tag gekleidet, und es thut &#x017F;ich<lb/>
plötzlich ein ei&#x017F;iger Nordo&#x017F;t auf, &#x017F;o wird das näch&#x017F;te Bauern-<lb/>
haus, eine Sennhütte, Felshöhle, Gebü&#x017F;ch oder &#x017F;on&#x017F;tiges ge-<lb/>
&#x017F;chütztes Plätzchen aufge&#x017F;ucht, die Rei&#x017F;eta&#x017F;che geöffnet, das<lb/>
Nachthemd unter das Oberhemd und was &#x017F;ie &#x017F;on&#x017F;t noch<lb/>
etwa hergibt, angezogen, z. B. ein Ta&#x017F;chentuch über den<lb/>
Baumwoll&#x017F;trumpf ge&#x017F;chlagen u. dergl. m. Strenge Kleider-<lb/>
ordnung i&#x017F;t überhaupt nicht aufrecht zu halten, der <hi rendition="#aq">Codex<lb/>
turisticus</hi> ge&#x017F;tattet &#x017F;ogar als Nothwehr &#x017F;chwere Gewaltthaten.<lb/>
Einen Commentar zu die&#x017F;em Paragraphen mag folgendes<lb/>
Ge&#x017F;chichtchen liefern.</p><lb/>
        <p>Vor geraumer Zeit machte gleichzeitig mit mir die Tour<lb/>
über&#x2019;s Stilf&#x017F;er Joch ein junges Ehepaar, um den Comer&#x017F;ee<lb/>
zu be&#x017F;uchen. Wir waren zu&#x017F;ammen in <placeName>Meran</placeName> bei herrlichem<lb/>
Wetter in den Wagen ge&#x017F;tiegen, je mehr wir uns aber dem<lb/>
Paß näherten, je rauher wurde es. Das Ge&#x017F;präch &#x017F;tockte,<lb/>
die Ge&#x017F;ichter erbleichten, die Na&#x017F;en errötheten. Der Mann,<lb/>
der am mei&#x017F;ten fror, war leicht gekleidet und hatte, obwohl<lb/>
offenbar kränklich, wie &#x017F;ich &#x017F;päter ergab, im Rau&#x017F;che des<lb/>
Flitterwochenglücks, &#x017F;ein ganzes Gepäck vorausge&#x017F;chickt, und<lb/>
bei &#x017F;ich außer &#x017F;einer Liebe nur Kleinigkeiten, z. B. ein Thermo-<lb/>
meterchen, das zwei Grad über Null nachwies, und eine<lb/>
Ta&#x017F;chenausgabe von <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118613200">Seneca</persName>. Nicht einmal mit einem Plaid<lb/>
war der Unbe&#x017F;onnene ver&#x017F;ehen! Weder die Philo&#x017F;ophie des<lb/>
Hispaniers, noch die Pracht der uns umgebenden Bergland-<lb/>
&#x017F;chaft konnte ihn vom Zähneklappern abhalten. Wir waren<lb/>
jetzt oberhalb <placeName>Trafoi</placeName>, von men&#x017F;chlicher Hilfe weit entfernt.<lb/>
Auf Seite des Weibleins ver&#x017F;tohlenes Weinen über das Leid<lb/>
und die Gefahr des Gatten, denn &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t ver&#x017F;icherte, nichts<lb/>
von Kälte zu &#x017F;püren, nur &#x201E;ein bischen&#x201C; kalte Füße. Meinen<lb/>
Vorrath von &#x017F;chlechten Wärmeleitern hatte ich bereits im<lb/>
eigenen Nutzen ziemlich er&#x017F;chöpft, und von verfügbaren fanden<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[30/0044] III. Zur Kleiderordnung — eine Lebensrettung. Ziel nie kurz vor die Abreiſe geſteckt, ſondern ſtets ein Reſpect- tag in die Rechnung aufgenommen. Geſagt, gethan. Hat man auf einer kleineren Excurſion ſich nicht gehörig vor- geſehen, z. B. auf einen heißen Tag gekleidet, und es thut ſich plötzlich ein eiſiger Nordoſt auf, ſo wird das nächſte Bauern- haus, eine Sennhütte, Felshöhle, Gebüſch oder ſonſtiges ge- ſchütztes Plätzchen aufgeſucht, die Reiſetaſche geöffnet, das Nachthemd unter das Oberhemd und was ſie ſonſt noch etwa hergibt, angezogen, z. B. ein Taſchentuch über den Baumwollſtrumpf geſchlagen u. dergl. m. Strenge Kleider- ordnung iſt überhaupt nicht aufrecht zu halten, der Codex turisticus geſtattet ſogar als Nothwehr ſchwere Gewaltthaten. Einen Commentar zu dieſem Paragraphen mag folgendes Geſchichtchen liefern. Vor geraumer Zeit machte gleichzeitig mit mir die Tour über’s Stilfſer Joch ein junges Ehepaar, um den Comerſee zu beſuchen. Wir waren zuſammen in Meran bei herrlichem Wetter in den Wagen geſtiegen, je mehr wir uns aber dem Paß näherten, je rauher wurde es. Das Geſpräch ſtockte, die Geſichter erbleichten, die Naſen errötheten. Der Mann, der am meiſten fror, war leicht gekleidet und hatte, obwohl offenbar kränklich, wie ſich ſpäter ergab, im Rauſche des Flitterwochenglücks, ſein ganzes Gepäck vorausgeſchickt, und bei ſich außer ſeiner Liebe nur Kleinigkeiten, z. B. ein Thermo- meterchen, das zwei Grad über Null nachwies, und eine Taſchenausgabe von Seneca. Nicht einmal mit einem Plaid war der Unbeſonnene verſehen! Weder die Philoſophie des Hispaniers, noch die Pracht der uns umgebenden Bergland- ſchaft konnte ihn vom Zähneklappern abhalten. Wir waren jetzt oberhalb Trafoi, von menſchlicher Hilfe weit entfernt. Auf Seite des Weibleins verſtohlenes Weinen über das Leid und die Gefahr des Gatten, denn ſie ſelbſt verſicherte, nichts von Kälte zu ſpüren, nur „ein bischen“ kalte Füße. Meinen Vorrath von ſchlechten Wärmeleitern hatte ich bereits im eigenen Nutzen ziemlich erſchöpft, und von verfügbaren fanden

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/44
Zitationshilfe: Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/44>, abgerufen am 03.12.2024.