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Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.

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III. Schriftliche Aufzeichnungen -- Gedächtniß und Phantasie.
seinen einheimischen Nebenbuhlern zu behandeln, auch wenn
sie ihm befreundet sind, wie etwa ein Knabe die Auskund-
schaftung eines Vogelnestes, das er ausnehmen will; dem
Fremden gegenüber schweigt aber meistens die Stimme der
Selbstsucht, oder vielmehr sie flüstert: der ist ungefährlich,
dem willst du doch zeigen, daß auch du Kenner und Liebhaber
bist und daß auch bei uns ein guter Tropfen zu haben ist. --
Ueber die Wahl eines Führers (vergl. VI.) in entlegenen
Gebirgsorten höre ich gern den Geistlichen.

Nicht als Krücke, sondern als rechten Wanderstab und
Stütze für jedes Gedächtniß ist die Art von schriftlichen Auf-
zeichnungen
zu rühmen, die nicht auf Ausarbeitungen und
Beschreibungen ausgeht, sondern sich mit Wörtern, Zahlen,
kurzen Sätzen im Telegrammenstil begnügt, grundsätzlich
aber keinen Tag ohne einige Zeilen läßt. Nehmen wir, wie
schwärmerische Jünglinge und Jungfrauen zu thun pflegen,
den Vorsatz mit, gleich unterwegs ununterbrochenes voll-
ständiges Tagebuch zu führen, so kommt das nur zu rasch
ganz in's Stocken, weil es bald an Zeit, Lust, Frische, bald
an einer zum Schreiben geeigneten Oertlichkeit und an Un-
gestörtheit fehlt. Keinen Dispens gibt dagegen ein gutes
Reisegewissen von der regelmäßigen Aufzeichnung kurzer
Notizen. Je stärker unser Gedächtniß und unsere Phantasie
und je aufmerksamer unser Auge ist, je mehr Nutzen und
Freude haben wir von solchen Schreibereien, je kärglicher wir
in dieser Beziehung begabt sind, je mehr bedürfen wir ihrer.
Sie dienen theils als Grundlage für Briefe, mündliche Er-
zählungen, Ausarbeitungen, theils um an ihrer Hand nach
langen Jahren im Geiste die Reise wieder und wieder machen
zu können, wobei noch der große Gewinn ist, daß in der Er-
innerung alles Schöne hervor, alles Häßliche und Gleich-
giltige hingegen zurücktritt.

Es ist damit gar seltsam. Gemälde dunkeln nach im
Laufe der Jahre oder verblassen, anders verhält es sich mit
den Bildern, die unser Gedächtniß aufbewahrt. Dieser treue,

III. Schriftliche Aufzeichnungen — Gedächtniß und Phantaſie.
ſeinen einheimiſchen Nebenbuhlern zu behandeln, auch wenn
ſie ihm befreundet ſind, wie etwa ein Knabe die Auskund-
ſchaftung eines Vogelneſtes, das er ausnehmen will; dem
Fremden gegenüber ſchweigt aber meiſtens die Stimme der
Selbſtſucht, oder vielmehr ſie flüſtert: der iſt ungefährlich,
dem willſt du doch zeigen, daß auch du Kenner und Liebhaber
biſt und daß auch bei uns ein guter Tropfen zu haben iſt. —
Ueber die Wahl eines Führers (vergl. VI.) in entlegenen
Gebirgsorten höre ich gern den Geiſtlichen.

Nicht als Krücke, ſondern als rechten Wanderſtab und
Stütze für jedes Gedächtniß iſt die Art von ſchriftlichen Auf-
zeichnungen
zu rühmen, die nicht auf Ausarbeitungen und
Beſchreibungen ausgeht, ſondern ſich mit Wörtern, Zahlen,
kurzen Sätzen im Telegrammenſtil begnügt, grundſätzlich
aber keinen Tag ohne einige Zeilen läßt. Nehmen wir, wie
ſchwärmeriſche Jünglinge und Jungfrauen zu thun pflegen,
den Vorſatz mit, gleich unterwegs ununterbrochenes voll-
ſtändiges Tagebuch zu führen, ſo kommt das nur zu raſch
ganz in’s Stocken, weil es bald an Zeit, Luſt, Friſche, bald
an einer zum Schreiben geeigneten Oertlichkeit und an Un-
geſtörtheit fehlt. Keinen Dispens gibt dagegen ein gutes
Reiſegewiſſen von der regelmäßigen Aufzeichnung kurzer
Notizen. Je ſtärker unſer Gedächtniß und unſere Phantaſie
und je aufmerkſamer unſer Auge iſt, je mehr Nutzen und
Freude haben wir von ſolchen Schreibereien, je kärglicher wir
in dieſer Beziehung begabt ſind, je mehr bedürfen wir ihrer.
Sie dienen theils als Grundlage für Briefe, mündliche Er-
zählungen, Ausarbeitungen, theils um an ihrer Hand nach
langen Jahren im Geiſte die Reiſe wieder und wieder machen
zu können, wobei noch der große Gewinn iſt, daß in der Er-
innerung alles Schöne hervor, alles Häßliche und Gleich-
giltige hingegen zurücktritt.

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Laufe der Jahre oder verblaſſen, anders verhält es ſich mit
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[58/0072] III. Schriftliche Aufzeichnungen — Gedächtniß und Phantaſie. ſeinen einheimiſchen Nebenbuhlern zu behandeln, auch wenn ſie ihm befreundet ſind, wie etwa ein Knabe die Auskund- ſchaftung eines Vogelneſtes, das er ausnehmen will; dem Fremden gegenüber ſchweigt aber meiſtens die Stimme der Selbſtſucht, oder vielmehr ſie flüſtert: der iſt ungefährlich, dem willſt du doch zeigen, daß auch du Kenner und Liebhaber biſt und daß auch bei uns ein guter Tropfen zu haben iſt. — Ueber die Wahl eines Führers (vergl. VI.) in entlegenen Gebirgsorten höre ich gern den Geiſtlichen. Nicht als Krücke, ſondern als rechten Wanderſtab und Stütze für jedes Gedächtniß iſt die Art von ſchriftlichen Auf- zeichnungen zu rühmen, die nicht auf Ausarbeitungen und Beſchreibungen ausgeht, ſondern ſich mit Wörtern, Zahlen, kurzen Sätzen im Telegrammenſtil begnügt, grundſätzlich aber keinen Tag ohne einige Zeilen läßt. Nehmen wir, wie ſchwärmeriſche Jünglinge und Jungfrauen zu thun pflegen, den Vorſatz mit, gleich unterwegs ununterbrochenes voll- ſtändiges Tagebuch zu führen, ſo kommt das nur zu raſch ganz in’s Stocken, weil es bald an Zeit, Luſt, Friſche, bald an einer zum Schreiben geeigneten Oertlichkeit und an Un- geſtörtheit fehlt. Keinen Dispens gibt dagegen ein gutes Reiſegewiſſen von der regelmäßigen Aufzeichnung kurzer Notizen. Je ſtärker unſer Gedächtniß und unſere Phantaſie und je aufmerkſamer unſer Auge iſt, je mehr Nutzen und Freude haben wir von ſolchen Schreibereien, je kärglicher wir in dieſer Beziehung begabt ſind, je mehr bedürfen wir ihrer. Sie dienen theils als Grundlage für Briefe, mündliche Er- zählungen, Ausarbeitungen, theils um an ihrer Hand nach langen Jahren im Geiſte die Reiſe wieder und wieder machen zu können, wobei noch der große Gewinn iſt, daß in der Er- innerung alles Schöne hervor, alles Häßliche und Gleich- giltige hingegen zurücktritt. Es iſt damit gar ſeltſam. Gemälde dunkeln nach im Laufe der Jahre oder verblaſſen, anders verhält es ſich mit den Bildern, die unſer Gedächtniß aufbewahrt. Dieſer treue,

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Zitationshilfe: Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/72>, abgerufen am 21.11.2024.