IV. Odysseus fährt in die Unterwelt -- Hinabgleiten.
sich ihnen vertrauensvoll nähert, so recht mit dem Gefühle des Behagens über sie hinschlendert, wie auf heimischer Frühlingsflur.
Die Bekanntschaft einer derartigen verrätherischen Matte machte ich schon in meiner ersten schweizer Reisewoche; hören Sie, wie es mir dabei erging. Ich fühle plötzlich beide Füße seitwärts gleiten und den Oberkörper sanft zu Boden ziehen. Alles verläuft so gelind und säuberlich, der Fall ist so weich und schmerzlos, daß ich, wenn ich mich recht erinnere, zuerst lachte. Keine Viertelminute währt es jedoch, so hat sich die Scene ganz und gar verändert und jede Spur von komischem Reiz verloren, denn es bleibt nicht beim Fall auf weichen Rasen, sondern ich sehe mich unaufhaltsam abwärts getrieben, erst langsam, dann schneller und bald mit sausender Ge- schwindigkeit. Das Bewußtsein der Lebensgefahr ließ nicht auf sich warten, glücklicherweise ahnte ich aber doch nicht ihre Größe, sonst wäre ich vielleicht in Verwirrung gerathen und hätte im rechten Augenblick das Nöthige versäumt. Ich trieb nämlich auf eine tief und steil abfallende Felswand zu, deren Opfer ich unzweifelhaft geworden wäre, wenn nicht sechs Schritte vor dem Abgrunde eine Klippe mich aufgefangen hätte. Eine zweite glückliche Fügung war es, daß der heftige Anprall, obwohl ich in Folge einiger unfreiwilligen Achsen- drehungen mit dem Kopfe voran hinabtrieb, nicht diesen, sondern die Schulter traf und ich trotz heftiger Schmerzen die Besinnung behielt. An meine steinerne Retterin geklammert, wartete ich auf die Gefährten, die mich schon verloren geglaubt hatten.
Ueber geneigte Schneeflächen läßt sich auch mittels des Alpenstocks rittlings hinab gleiten, nur darf, weil hier ohnehin schon die Bewegung schwerer zu zügeln ist, unter dem Schnee kein Eis sein, denn selbst im besten Falle würde sich dann die Niederfahrt bald unerwünscht gestalten. Ein solcher Weg soll nicht ohne Eissporen gemacht werden, welche auf schlüpfrigen Grashängen gleichfalls von Nutzen sind.
IV. Odyſſeus fährt in die Unterwelt — Hinabgleiten.
ſich ihnen vertrauensvoll nähert, ſo recht mit dem Gefühle des Behagens über ſie hinſchlendert, wie auf heimiſcher Frühlingsflur.
Die Bekanntſchaft einer derartigen verrätheriſchen Matte machte ich ſchon in meiner erſten ſchweizer Reiſewoche; hören Sie, wie es mir dabei erging. Ich fühle plötzlich beide Füße ſeitwärts gleiten und den Oberkörper ſanft zu Boden ziehen. Alles verläuft ſo gelind und ſäuberlich, der Fall iſt ſo weich und ſchmerzlos, daß ich, wenn ich mich recht erinnere, zuerſt lachte. Keine Viertelminute währt es jedoch, ſo hat ſich die Scene ganz und gar verändert und jede Spur von komiſchem Reiz verloren, denn es bleibt nicht beim Fall auf weichen Raſen, ſondern ich ſehe mich unaufhaltſam abwärts getrieben, erſt langſam, dann ſchneller und bald mit ſauſender Ge- ſchwindigkeit. Das Bewußtſein der Lebensgefahr ließ nicht auf ſich warten, glücklicherweiſe ahnte ich aber doch nicht ihre Größe, ſonſt wäre ich vielleicht in Verwirrung gerathen und hätte im rechten Augenblick das Nöthige verſäumt. Ich trieb nämlich auf eine tief und ſteil abfallende Felswand zu, deren Opfer ich unzweifelhaft geworden wäre, wenn nicht ſechs Schritte vor dem Abgrunde eine Klippe mich aufgefangen hätte. Eine zweite glückliche Fügung war es, daß der heftige Anprall, obwohl ich in Folge einiger unfreiwilligen Achſen- drehungen mit dem Kopfe voran hinabtrieb, nicht dieſen, ſondern die Schulter traf und ich trotz heftiger Schmerzen die Beſinnung behielt. An meine ſteinerne Retterin geklammert, wartete ich auf die Gefährten, die mich ſchon verloren geglaubt hatten.
Ueber geneigte Schneeflächen läßt ſich auch mittels des Alpenſtocks rittlings hinab gleiten, nur darf, weil hier ohnehin ſchon die Bewegung ſchwerer zu zügeln iſt, unter dem Schnee kein Eis ſein, denn ſelbſt im beſten Falle würde ſich dann die Niederfahrt bald unerwünſcht geſtalten. Ein ſolcher Weg ſoll nicht ohne Eisſporen gemacht werden, welche auf ſchlüpfrigen Grashängen gleichfalls von Nutzen ſind.
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IV. Odyſſeus fährt in die Unterwelt — Hinabgleiten.
ſich ihnen vertrauensvoll nähert, ſo recht mit dem Gefühle
des Behagens über ſie hinſchlendert, wie auf heimiſcher
Frühlingsflur.
Die Bekanntſchaft einer derartigen verrätheriſchen Matte
machte ich ſchon in meiner erſten ſchweizer Reiſewoche; hören
Sie, wie es mir dabei erging. Ich fühle plötzlich beide Füße
ſeitwärts gleiten und den Oberkörper ſanft zu Boden ziehen.
Alles verläuft ſo gelind und ſäuberlich, der Fall iſt ſo weich
und ſchmerzlos, daß ich, wenn ich mich recht erinnere, zuerſt
lachte. Keine Viertelminute währt es jedoch, ſo hat ſich die
Scene ganz und gar verändert und jede Spur von komiſchem
Reiz verloren, denn es bleibt nicht beim Fall auf weichen
Raſen, ſondern ich ſehe mich unaufhaltſam abwärts getrieben,
erſt langſam, dann ſchneller und bald mit ſauſender Ge-
ſchwindigkeit. Das Bewußtſein der Lebensgefahr ließ nicht
auf ſich warten, glücklicherweiſe ahnte ich aber doch nicht ihre
Größe, ſonſt wäre ich vielleicht in Verwirrung gerathen und
hätte im rechten Augenblick das Nöthige verſäumt. Ich trieb
nämlich auf eine tief und ſteil abfallende Felswand zu, deren
Opfer ich unzweifelhaft geworden wäre, wenn nicht ſechs
Schritte vor dem Abgrunde eine Klippe mich aufgefangen
hätte. Eine zweite glückliche Fügung war es, daß der heftige
Anprall, obwohl ich in Folge einiger unfreiwilligen Achſen-
drehungen mit dem Kopfe voran hinabtrieb, nicht dieſen,
ſondern die Schulter traf und ich trotz heftiger Schmerzen die
Beſinnung behielt. An meine ſteinerne Retterin geklammert,
wartete ich auf die Gefährten, die mich ſchon verloren
geglaubt hatten.
Ueber geneigte Schneeflächen läßt ſich auch mittels des
Alpenſtocks rittlings hinab gleiten, nur darf, weil hier
ohnehin ſchon die Bewegung ſchwerer zu zügeln iſt, unter
dem Schnee kein Eis ſein, denn ſelbſt im beſten Falle würde
ſich dann die Niederfahrt bald unerwünſcht geſtalten. Ein
ſolcher Weg ſoll nicht ohne Eisſporen gemacht werden, welche
auf ſchlüpfrigen Grashängen gleichfalls von Nutzen ſind.
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Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/87>, abgerufen am 16.02.2025.
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