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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.

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was zumuthen wollte. Wie könnt ich das verant-
worten, sagte sie, wenn ich nicht von meinem lieb-
sten Bruder Abschied nähme? Wer weiß, setzte sie
mit Thränen in den Augen hinzu, wann wir uns
wiedersehen? Nein, Bruder, das gienge mir mein
Lebtag nach! Fodre so was nicht von mir!

Sie giengen zu Bette. Um vier Uhr, als der
Himmel schon ganz roth war, und der Morgen-
stern noch allein da stand, wurde Xaver vom Be-
dienten geweckt. Er zog sich hurtig an, und war
ungewöhnlich traurig. Therese kam in ihrem
weissen Negligee, mit blassen Wangen und ver-
weinten Augen zu ihm, sie fiel ihm um den Hals
und küßte ihn; sprechen konnte sie nur wenig-
Lieber Bruder, vergiß mich nicht! war alles, was
sie sagte.

Der Vater ließ ihn noch allein aufs Zimmer
kommen, sprach liebreich und beweglich mit ihm.
Mache, daß ich Freud an dir erlebe! sagte er, und
werd ein frommer Mann! Unsre Familie hat von
jeher den Ruhm gehabt, daß wir's treu mit Gott
und Menschen meynen. Verscherz du diesen Ruhm
nicht! Er ist das beste Kleinod, das ich dir mitge-
ben kann; alles andre ist nur Tand und Puppen-
werk. Hier hast du noch was zum Andenken.



was zumuthen wollte. Wie koͤnnt ich das verant-
worten, ſagte ſie, wenn ich nicht von meinem lieb-
ſten Bruder Abſchied naͤhme? Wer weiß, ſetzte ſie
mit Thraͤnen in den Augen hinzu, wann wir uns
wiederſehen? Nein, Bruder, das gienge mir mein
Lebtag nach! Fodre ſo was nicht von mir!

Sie giengen zu Bette. Um vier Uhr, als der
Himmel ſchon ganz roth war, und der Morgen-
ſtern noch allein da ſtand, wurde Xaver vom Be-
dienten geweckt. Er zog ſich hurtig an, und war
ungewoͤhnlich traurig. Thereſe kam in ihrem
weiſſen Negligee, mit blaſſen Wangen und ver-
weinten Augen zu ihm, ſie fiel ihm um den Hals
und kuͤßte ihn; ſprechen konnte ſie nur wenig-
Lieber Bruder, vergiß mich nicht! war alles, was
ſie ſagte.

Der Vater ließ ihn noch allein aufs Zimmer
kommen, ſprach liebreich und beweglich mit ihm.
Mache, daß ich Freud an dir erlebe! ſagte er, und
werd ein frommer Mann! Unſre Familie hat von
jeher den Ruhm gehabt, daß wir’s treu mit Gott
und Menſchen meynen. Verſcherz du dieſen Ruhm
nicht! Er iſt das beſte Kleinod, das ich dir mitge-
ben kann; alles andre iſt nur Tand und Puppen-
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[163/0167] was zumuthen wollte. Wie koͤnnt ich das verant- worten, ſagte ſie, wenn ich nicht von meinem lieb- ſten Bruder Abſchied naͤhme? Wer weiß, ſetzte ſie mit Thraͤnen in den Augen hinzu, wann wir uns wiederſehen? Nein, Bruder, das gienge mir mein Lebtag nach! Fodre ſo was nicht von mir! Sie giengen zu Bette. Um vier Uhr, als der Himmel ſchon ganz roth war, und der Morgen- ſtern noch allein da ſtand, wurde Xaver vom Be- dienten geweckt. Er zog ſich hurtig an, und war ungewoͤhnlich traurig. Thereſe kam in ihrem weiſſen Negligee, mit blaſſen Wangen und ver- weinten Augen zu ihm, ſie fiel ihm um den Hals und kuͤßte ihn; ſprechen konnte ſie nur wenig- Lieber Bruder, vergiß mich nicht! war alles, was ſie ſagte. Der Vater ließ ihn noch allein aufs Zimmer kommen, ſprach liebreich und beweglich mit ihm. Mache, daß ich Freud an dir erlebe! ſagte er, und werd ein frommer Mann! Unſre Familie hat von jeher den Ruhm gehabt, daß wir’s treu mit Gott und Menſchen meynen. Verſcherz du dieſen Ruhm nicht! Er iſt das beſte Kleinod, das ich dir mitge- ben kann; alles andre iſt nur Tand und Puppen- werk. Hier haſt du noch was zum Andenken.

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/167>, abgerufen am 21.11.2024.