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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.

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Er thats mit so vieler Wärme, und herzlicher,
ungekünstelter, brüderlicher Liebe, daß Kronhelms
ganze Seele von ihr eingenommen wurde, und an
allen Kleinigkeiten Antheil nahm, die sie betrafen.
Er trug ihm seine vielfache Empfehlung an sie,
und die Versicherung der |aufrichtigsten Hochach-
tung auf. Xaver, sagte er, ich bedaure dich,
daß du einst durch keine Frau glücklich werden
sollst; ich halte die häusliche Glückseligkeit für
die gröste, ob ich gleich in meines Vaters Hause,
leyder! nie keine Spur davon angetroffen habe.
Du sprachst vorhin von deiner lieben Schwester
mit so vieler Wärme; du bemerkst alle Vorzüge
des weiblichen Geschlechts so genau, weist sie so
zu schätzen, und fühlst sie so tief, daß ich bange
für dich bin, wenn du einmal ein Mädchen an-
treffen solltest, welches deiner Schwester ähnlich
ist. Glaub mir, Siegwart, mit einem fühlen-
den Herzen in der Welt zu leben, und nicht füh-
len zu dürfen, muß der gröste Schmerz seyn,
der unsichtbar am Leben nagt. Dein Herz ist
jedem Eindruck so offen, hängt sich gleich so fest
an alles Gute an; und die Liebe, Siegwart, muß
was Gutes seyn. Warum fühlte sie denn jeder
Mensch, auch die Besten auf der Welt? Nimm



Er thats mit ſo vieler Waͤrme, und herzlicher,
ungekuͤnſtelter, bruͤderlicher Liebe, daß Kronhelms
ganze Seele von ihr eingenommen wurde, und an
allen Kleinigkeiten Antheil nahm, die ſie betrafen.
Er trug ihm ſeine vielfache Empfehlung an ſie,
und die Verſicherung der |aufrichtigſten Hochach-
tung auf. Xaver, ſagte er, ich bedaure dich,
daß du einſt durch keine Frau gluͤcklich werden
ſollſt; ich halte die haͤusliche Gluͤckſeligkeit fuͤr
die groͤſte, ob ich gleich in meines Vaters Hauſe,
leyder! nie keine Spur davon angetroffen habe.
Du ſprachſt vorhin von deiner lieben Schweſter
mit ſo vieler Waͤrme; du bemerkſt alle Vorzuͤge
des weiblichen Geſchlechts ſo genau, weiſt ſie ſo
zu ſchaͤtzen, und fuͤhlſt ſie ſo tief, daß ich bange
fuͤr dich bin, wenn du einmal ein Maͤdchen an-
treffen ſollteſt, welches deiner Schweſter aͤhnlich
iſt. Glaub mir, Siegwart, mit einem fuͤhlen-
den Herzen in der Welt zu leben, und nicht fuͤh-
len zu duͤrfen, muß der groͤſte Schmerz ſeyn,
der unſichtbar am Leben nagt. Dein Herz iſt
jedem Eindruck ſo offen, haͤngt ſich gleich ſo feſt
an alles Gute an; und die Liebe, Siegwart, muß
was Gutes ſeyn. Warum fuͤhlte ſie denn jeder
Menſch, auch die Beſten auf der Welt? Nimm

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[217/0221] Er thats mit ſo vieler Waͤrme, und herzlicher, ungekuͤnſtelter, bruͤderlicher Liebe, daß Kronhelms ganze Seele von ihr eingenommen wurde, und an allen Kleinigkeiten Antheil nahm, die ſie betrafen. Er trug ihm ſeine vielfache Empfehlung an ſie, und die Verſicherung der |aufrichtigſten Hochach- tung auf. Xaver, ſagte er, ich bedaure dich, daß du einſt durch keine Frau gluͤcklich werden ſollſt; ich halte die haͤusliche Gluͤckſeligkeit fuͤr die groͤſte, ob ich gleich in meines Vaters Hauſe, leyder! nie keine Spur davon angetroffen habe. Du ſprachſt vorhin von deiner lieben Schweſter mit ſo vieler Waͤrme; du bemerkſt alle Vorzuͤge des weiblichen Geſchlechts ſo genau, weiſt ſie ſo zu ſchaͤtzen, und fuͤhlſt ſie ſo tief, daß ich bange fuͤr dich bin, wenn du einmal ein Maͤdchen an- treffen ſollteſt, welches deiner Schweſter aͤhnlich iſt. Glaub mir, Siegwart, mit einem fuͤhlen- den Herzen in der Welt zu leben, und nicht fuͤh- len zu duͤrfen, muß der groͤſte Schmerz ſeyn, der unſichtbar am Leben nagt. Dein Herz iſt jedem Eindruck ſo offen, haͤngt ſich gleich ſo feſt an alles Gute an; und die Liebe, Siegwart, muß was Gutes ſeyn. Warum fuͤhlte ſie denn jeder Menſch, auch die Beſten auf der Welt? Nimm

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 217. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/221>, abgerufen am 24.11.2024.