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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.

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te Bauren, bedrängte Witwen, unglückliche El-
tern kamen zu ihr, und giengen mit Trost und
Rath wieder von ihr weg. Jhr Verstand war
scharf und fein, daß sie gleich bey jeder Sache
auf den Grund kam; gleich die besten Mittel
wählte, oder angab, und sich in jedermann zu
schicken wuste. Jhre Lebhaftigkeit war ausseror-
dentlich; an allem, was sie sah und hörte, nahm
sie Antheil; unsre Spiele machte sie Stundenlang
mit, und wuste sie uns immer neu und unter-
haltend zu machen, denn niemand war erfinderi-
scher, als sie. Jhr Herz beschäftigte sich unabläs-
sig mit der Religion, und doch bezogen sich alle
ihre Handlungen, auch ihre Andachtsübungen,
beständig auf das Wohl der Menschen,
und besonders ihrer Kinder. Sie wuste
uns die wichtigsten Wahrheiten und die heiligsten
Gesinnungen spielend, und gleichsam nur von un-
gefähr beyzubringen. Keine seyerliche Gelegen-
heit, wenn das Herz zu den Eindrücken der Re-
ligion am geschicktesten ist, ließ sie ungenützt vor-
bey gehen. Wenn wir von der Schönheit der
Natur recht entzückt waren, zeigte sie uns un-
vermerkt den Urheber derselben, und flößte uns
Ehrfurcht und Liebe gegen Jhn ein. Oft kniete



te Bauren, bedraͤngte Witwen, ungluͤckliche El-
tern kamen zu ihr, und giengen mit Troſt und
Rath wieder von ihr weg. Jhr Verſtand war
ſcharf und fein, daß ſie gleich bey jeder Sache
auf den Grund kam; gleich die beſten Mittel
waͤhlte, oder angab, und ſich in jedermann zu
ſchicken wuſte. Jhre Lebhaftigkeit war auſſeror-
dentlich; an allem, was ſie ſah und hoͤrte, nahm
ſie Antheil; unſre Spiele machte ſie Stundenlang
mit, und wuſte ſie uns immer neu und unter-
haltend zu machen, denn niemand war erfinderi-
ſcher, als ſie. Jhr Herz beſchaͤftigte ſich unablaͤſ-
ſig mit der Religion, und doch bezogen ſich alle
ihre Handlungen, auch ihre Andachtsuͤbungen,
beſtaͤndig auf das Wohl der Menſchen,
und beſonders ihrer Kinder. Sie wuſte
uns die wichtigſten Wahrheiten und die heiligſten
Geſinnungen ſpielend, und gleichſam nur von un-
gefaͤhr beyzubringen. Keine ſeyerliche Gelegen-
heit, wenn das Herz zu den Eindruͤcken der Re-
ligion am geſchickteſten iſt, ließ ſie ungenuͤtzt vor-
bey gehen. Wenn wir von der Schoͤnheit der
Natur recht entzuͤckt waren, zeigte ſie uns un-
vermerkt den Urheber derſelben, und floͤßte uns
Ehrfurcht und Liebe gegen Jhn ein. Oft kniete

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[222/0226] te Bauren, bedraͤngte Witwen, ungluͤckliche El- tern kamen zu ihr, und giengen mit Troſt und Rath wieder von ihr weg. Jhr Verſtand war ſcharf und fein, daß ſie gleich bey jeder Sache auf den Grund kam; gleich die beſten Mittel waͤhlte, oder angab, und ſich in jedermann zu ſchicken wuſte. Jhre Lebhaftigkeit war auſſeror- dentlich; an allem, was ſie ſah und hoͤrte, nahm ſie Antheil; unſre Spiele machte ſie Stundenlang mit, und wuſte ſie uns immer neu und unter- haltend zu machen, denn niemand war erfinderi- ſcher, als ſie. Jhr Herz beſchaͤftigte ſich unablaͤſ- ſig mit der Religion, und doch bezogen ſich alle ihre Handlungen, auch ihre Andachtsuͤbungen, beſtaͤndig auf das Wohl der Menſchen, und beſonders ihrer Kinder. Sie wuſte uns die wichtigſten Wahrheiten und die heiligſten Geſinnungen ſpielend, und gleichſam nur von un- gefaͤhr beyzubringen. Keine ſeyerliche Gelegen- heit, wenn das Herz zu den Eindruͤcken der Re- ligion am geſchickteſten iſt, ließ ſie ungenuͤtzt vor- bey gehen. Wenn wir von der Schoͤnheit der Natur recht entzuͤckt waren, zeigte ſie uns un- vermerkt den Urheber derſelben, und floͤßte uns Ehrfurcht und Liebe gegen Jhn ein. Oft kniete

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/226>, abgerufen am 24.11.2024.