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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.

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Hälfte fertig *), und ich habe das, was da ist,
noch nicht halb gelesen. Man kommt in ganz
neue Welten von Engeln; und von Engeln, wie sie
sich wol noch nie eine menschliche Seele vorgestellt
hat, so groß und vollkommen sind sie. Meynst
du nicht, daß ein Mensch, der sich das so leben-
dig vorstellen kann, eben so groß und vollkommen
seyn müsse? Die Stellen, die ich bis jetzt am
meisten bewundre und liebe, sind: die von Sam-
ma
und Joel und Benoni. Die Haut schau-
dert einem, wenn mans liest und alles so mit an-
sieht. Dem Seraph Abbadona bin ich recht
gut; wenn er doch nicht so unglücklich wäre!
Philo ist ein abscheulicher Kerl! und der men-
schenfreundliche Nikodemus neben ihm! Wie sticht
das ab! Am meisten hat mich die Geschichte von
Semida und Cidli gerührt. So etwas schmel-
zendes und süsses und wehmüthiges hat wol noch
kein Mensch gedacht; und doch ist alles so wahr
und treffend! O, ich möchte mich mit Cidli zu
Tode weinen! Letzthin träumte mir von ihr.
Jch glaub, ich hab sie gesehen, wie sie aussah.

*) Jetzt ist der ganze Messias vollendet, und
enthält zwanzig Gesänge. Anmerkung des
Herausgebers.



Haͤlfte fertig *), und ich habe das, was da iſt,
noch nicht halb geleſen. Man kommt in ganz
neue Welten von Engeln; und von Engeln, wie ſie
ſich wol noch nie eine menſchliche Seele vorgeſtellt
hat, ſo groß und vollkommen ſind ſie. Meynſt
du nicht, daß ein Menſch, der ſich das ſo leben-
dig vorſtellen kann, eben ſo groß und vollkommen
ſeyn muͤſſe? Die Stellen, die ich bis jetzt am
meiſten bewundre und liebe, ſind: die von Sam-
ma
und Joel und Benoni. Die Haut ſchau-
dert einem, wenn mans lieſt und alles ſo mit an-
ſieht. Dem Seraph Abbadona bin ich recht
gut; wenn er doch nicht ſo ungluͤcklich waͤre!
Philo iſt ein abſcheulicher Kerl! und der men-
ſchenfreundliche Nikodemus neben ihm! Wie ſticht
das ab! Am meiſten hat mich die Geſchichte von
Semida und Cidli geruͤhrt. So etwas ſchmel-
zendes und ſuͤſſes und wehmuͤthiges hat wol noch
kein Menſch gedacht; und doch iſt alles ſo wahr
und treffend! O, ich moͤchte mich mit Cidli zu
Tode weinen! Letzthin traͤumte mir von ihr.
Jch glaub, ich hab ſie geſehen, wie ſie ausſah.

*) Jetzt iſt der ganze Meſſias vollendet, und
enthaͤlt zwanzig Geſaͤnge. Anmerkung des
Herausgebers.
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[324/0328] Haͤlfte fertig *), und ich habe das, was da iſt, noch nicht halb geleſen. Man kommt in ganz neue Welten von Engeln; und von Engeln, wie ſie ſich wol noch nie eine menſchliche Seele vorgeſtellt hat, ſo groß und vollkommen ſind ſie. Meynſt du nicht, daß ein Menſch, der ſich das ſo leben- dig vorſtellen kann, eben ſo groß und vollkommen ſeyn muͤſſe? Die Stellen, die ich bis jetzt am meiſten bewundre und liebe, ſind: die von Sam- ma und Joel und Benoni. Die Haut ſchau- dert einem, wenn mans lieſt und alles ſo mit an- ſieht. Dem Seraph Abbadona bin ich recht gut; wenn er doch nicht ſo ungluͤcklich waͤre! Philo iſt ein abſcheulicher Kerl! und der men- ſchenfreundliche Nikodemus neben ihm! Wie ſticht das ab! Am meiſten hat mich die Geſchichte von Semida und Cidli geruͤhrt. So etwas ſchmel- zendes und ſuͤſſes und wehmuͤthiges hat wol noch kein Menſch gedacht; und doch iſt alles ſo wahr und treffend! O, ich moͤchte mich mit Cidli zu Tode weinen! Letzthin traͤumte mir von ihr. Jch glaub, ich hab ſie geſehen, wie ſie ausſah. *) Jetzt iſt der ganze Meſſias vollendet, und enthaͤlt zwanzig Geſaͤnge. Anmerkung des Herausgebers.

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 324. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/328>, abgerufen am 22.11.2024.