Anton, der seine tiefe Traurigkeit wahrnahm, führte ihn ganz langsam an die Thüre, ösnete sie leise, und lispelte ihm in die Ohren: der gute Pa- ter wirds nicht lange mehr machen. Komm er morgen früh, wenn er Lust hat, wieder zu mir in die Zelle; vielleicht hat mein Freund bis dahin überwunden.
Siegwart gieng nun mit traurigen Gedanken schlafen; um fünf Uhr wachte er auf, und sein er- ster Gedanke war an den kranken Pater. Die Sonne gieng neblicht auf; der halbe Himmel war blutrot, und warf einen blassen Wiederschein an die weisse Wand des Schlafgemachs. Er zog sich schnell an, und gieng an die Zelle. Er klopfte zweymal an die Thüre, ohne daß ihm geantwortet wurde; doch hörte er laut reden.
Als er aufmachte, hielt P. Anton dem Ster- benden den Kopf in die Höhe und nickte ihm mit Thränen in den Augen zu. Der andre Pater las aus einem Buche vor. Der Kranke war mehr gelb, wie blaß; Seine Augen standen unbeweglich, und man sah nur das Weisse davon. Er sammelte seine letzten Kräste, und betete laut nach. So flammt die sterbende Lampe noch einmal hell auf, und verlischt. Die letzten Worte, die er
Anton, der ſeine tiefe Traurigkeit wahrnahm, fuͤhrte ihn ganz langſam an die Thuͤre, oͤſnete ſie leiſe, und liſpelte ihm in die Ohren: der gute Pa- ter wirds nicht lange mehr machen. Komm er morgen fruͤh, wenn er Luſt hat, wieder zu mir in die Zelle; vielleicht hat mein Freund bis dahin uͤberwunden.
Siegwart gieng nun mit traurigen Gedanken ſchlafen; um fuͤnf Uhr wachte er auf, und ſein er- ſter Gedanke war an den kranken Pater. Die Sonne gieng neblicht auf; der halbe Himmel war blutrot, und warf einen blaſſen Wiederſchein an die weiſſe Wand des Schlafgemachs. Er zog ſich ſchnell an, und gieng an die Zelle. Er klopfte zweymal an die Thuͤre, ohne daß ihm geantwortet wurde; doch hoͤrte er laut reden.
Als er aufmachte, hielt P. Anton dem Ster- benden den Kopf in die Hoͤhe und nickte ihm mit Thraͤnen in den Augen zu. Der andre Pater las aus einem Buche vor. Der Kranke war mehr gelb, wie blaß; Seine Augen ſtanden unbeweglich, und man ſah nur das Weiſſe davon. Er ſammelte ſeine letzten Kraͤſte, und betete laut nach. So flammt die ſterbende Lampe noch einmal hell auf, und verliſcht. Die letzten Worte, die er
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Anton, der ſeine tiefe Traurigkeit wahrnahm,
fuͤhrte ihn ganz langſam an die Thuͤre, oͤſnete ſie
leiſe, und liſpelte ihm in die Ohren: der gute Pa-
ter wirds nicht lange mehr machen. Komm er
morgen fruͤh, wenn er Luſt hat, wieder zu mir in
die Zelle; vielleicht hat mein Freund bis dahin
uͤberwunden.
Siegwart gieng nun mit traurigen Gedanken
ſchlafen; um fuͤnf Uhr wachte er auf, und ſein er-
ſter Gedanke war an den kranken Pater. Die
Sonne gieng neblicht auf; der halbe Himmel war
blutrot, und warf einen blaſſen Wiederſchein an
die weiſſe Wand des Schlafgemachs. Er zog ſich
ſchnell an, und gieng an die Zelle. Er klopfte
zweymal an die Thuͤre, ohne daß ihm geantwortet
wurde; doch hoͤrte er laut reden.
Als er aufmachte, hielt P. Anton dem Ster-
benden den Kopf in die Hoͤhe und nickte ihm mit
Thraͤnen in den Augen zu. Der andre Pater las
aus einem Buche vor. Der Kranke war mehr
gelb, wie blaß; Seine Augen ſtanden unbeweglich,
und man ſah nur das Weiſſe davon. Er ſammelte
ſeine letzten Kraͤſte, und betete laut nach. So
flammt die ſterbende Lampe noch einmal hell auf,
und verliſcht. Die letzten Worte, die er
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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/49>, abgerufen am 21.11.2024.
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