Aecker und Wiesen ansehen, sie stossen ost an die luthri- sche. Bey ihnen gedeyht das Korn und das Gras so gut, wie bey uns, und wenn ein Wetterschaden kommt, so trift er eure Felder so gut, wie die ih- rigen; das ist alles eins. Meynt ihr denn, Gott würde Menschen erhalten, wenn er sie nicht lieb hätte? Oder wollt ihr sie verhungern lassen, oder todtschlagen? Wollt ihrs besser machen, wie Er? Jn der Bibel steht kein Wort davon, daß man seinem Nebenmenschen, wenn er auch ein Ketzer ist, so hart und unmenschlich begegnen soll. Jch will euch gleich eine Geschichte erzälen; unser See- ligmacher hat sie selbst erzält, und ihr werdet draus sehen, daß ein Ketzer auch ein guter Mensch seyn kann, an dem Gott Wohlgefallen hat; und an wem er Wohlgefallen hat, den macht Er selig, wenn er auch ein Ketzer ist.
Die Geschichte lautet so: Ein Rechtglaubiger wollte eine Reise machen, und da fiel er unter Spitzbuben, die ihn halb todt schlugen, und so lie- gen liessen. Da reiste ein Priester vorbey, das war ein Rechtglaubiger, der sah ihn, und ließ ihn ohne alle Barmherzigkeit liegen. Drauf kam ein Levit, das war auch ein Rechtglaubiger, der ließ ihn auch in seinem Elend da liegen. Nun gebt
Aecker und Wieſen anſehen, ſie ſtoſſen oſt an die luthri- ſche. Bey ihnen gedeyht das Korn und das Gras ſo gut, wie bey uns, und wenn ein Wetterſchaden kommt, ſo trift er eure Felder ſo gut, wie die ih- rigen; das iſt alles eins. Meynt ihr denn, Gott wuͤrde Menſchen erhalten, wenn er ſie nicht lieb haͤtte? Oder wollt ihr ſie verhungern laſſen, oder todtſchlagen? Wollt ihrs beſſer machen, wie Er? Jn der Bibel ſteht kein Wort davon, daß man ſeinem Nebenmenſchen, wenn er auch ein Ketzer iſt, ſo hart und unmenſchlich begegnen ſoll. Jch will euch gleich eine Geſchichte erzaͤlen; unſer See- ligmacher hat ſie ſelbſt erzaͤlt, und ihr werdet draus ſehen, daß ein Ketzer auch ein guter Menſch ſeyn kann, an dem Gott Wohlgefallen hat; und an wem er Wohlgefallen hat, den macht Er ſelig, wenn er auch ein Ketzer iſt.
Die Geſchichte lautet ſo: Ein Rechtglaubiger wollte eine Reiſe machen, und da fiel er unter Spitzbuben, die ihn halb todt ſchlugen, und ſo lie- gen lieſſen. Da reiſte ein Prieſter vorbey, das war ein Rechtglaubiger, der ſah ihn, und ließ ihn ohne alle Barmherzigkeit liegen. Drauf kam ein Levit, das war auch ein Rechtglaubiger, der ließ ihn auch in ſeinem Elend da liegen. Nun gebt
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Aecker und Wieſen anſehen, ſie ſtoſſen oſt an die luthri-
ſche. Bey ihnen gedeyht das Korn und das Gras ſo
gut, wie bey uns, und wenn ein Wetterſchaden
kommt, ſo trift er eure Felder ſo gut, wie die ih-
rigen; das iſt alles eins. Meynt ihr denn, Gott
wuͤrde Menſchen erhalten, wenn er ſie nicht lieb
haͤtte? Oder wollt ihr ſie verhungern laſſen, oder
todtſchlagen? Wollt ihrs beſſer machen, wie Er?
Jn der Bibel ſteht kein Wort davon, daß man
ſeinem Nebenmenſchen, wenn er auch ein Ketzer
iſt, ſo hart und unmenſchlich begegnen ſoll. Jch
will euch gleich eine Geſchichte erzaͤlen; unſer See-
ligmacher hat ſie ſelbſt erzaͤlt, und ihr werdet
draus ſehen, daß ein Ketzer auch ein guter Menſch
ſeyn kann, an dem Gott Wohlgefallen hat; und
an wem er Wohlgefallen hat, den macht Er ſelig,
wenn er auch ein Ketzer iſt.
Die Geſchichte lautet ſo: Ein Rechtglaubiger
wollte eine Reiſe machen, und da fiel er unter
Spitzbuben, die ihn halb todt ſchlugen, und ſo lie-
gen lieſſen. Da reiſte ein Prieſter vorbey, das
war ein Rechtglaubiger, der ſah ihn, und ließ ihn
ohne alle Barmherzigkeit liegen. Drauf kam ein
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ihn auch in ſeinem Elend da liegen. Nun gebt
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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/63>, abgerufen am 16.02.2025.
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