Hier fieng Michel an zu weinen. Und wißt ihr denn nicht, daß es heist: Christus der Herr ist für alle gestorben? für die christkatho- lische, wie für die Ketzer. Jhr dürft deswegen nicht lutherisch werden; da behüt mich Gott davor, euch so was zu rathen. Es ist immer besser, den geraden Weg gegangen, als den krummen. Aber friedlich und nachbarlich sollt ihr leben; und ich wollt, wir hätten all Einen Glauben!
Und was seyd ihr denn für ein Mann, Mi- chel? Da ists euch nicht genug mit den Ketzern so unmenschlich umzugehn; da muß noch eure arme Frau dran, die besser und christlicher denkt, als ihr. Da entsteht Unfried im Haus drüber; Eure Kinder schlagt ihr auch, und gebt ein böses Exempel. Aber ich weiß wol, wo der Schaden liegt; ihr seyd geitzig, hängt am Zeitlichen, und meynt, ihr müßt alles allein zusammen scharren, damit's fein einen grossen Hausen gebe. Das sind mir die rechten Christen! Jch habs vorhin wol gemerkt, ihr werft ihr vor, sie geb den Armen viel. Sie thut recht dran, und Gott wird ihrs einst im Himmel noch vergelten, wo ihr nicht hin kommt, wenn ihrs so macht. Jhr seyd ein schlech-
Hier fieng Michel an zu weinen. Und wißt ihr denn nicht, daß es heiſt: Chriſtus der Herr iſt fuͤr alle geſtorben? fuͤr die chriſtkatho- liſche, wie fuͤr die Ketzer. Jhr duͤrft deswegen nicht lutheriſch werden; da behuͤt mich Gott davor, euch ſo was zu rathen. Es iſt immer beſſer, den geraden Weg gegangen, als den krummen. Aber friedlich und nachbarlich ſollt ihr leben; und ich wollt, wir haͤtten all Einen Glauben!
Und was ſeyd ihr denn fuͤr ein Mann, Mi- chel? Da iſts euch nicht genug mit den Ketzern ſo unmenſchlich umzugehn; da muß noch eure arme Frau dran, die beſſer und chriſtlicher denkt, als ihr. Da entſteht Unfried im Haus druͤber; Eure Kinder ſchlagt ihr auch, und gebt ein boͤſes Exempel. Aber ich weiß wol, wo der Schaden liegt; ihr ſeyd geitzig, haͤngt am Zeitlichen, und meynt, ihr muͤßt alles allein zuſammen ſcharren, damit’s fein einen groſſen Hauſen gebe. Das ſind mir die rechten Chriſten! Jch habs vorhin wol gemerkt, ihr werft ihr vor, ſie geb den Armen viel. Sie thut recht dran, und Gott wird ihrs einſt im Himmel noch vergelten, wo ihr nicht hin kommt, wenn ihrs ſo macht. Jhr ſeyd ein ſchlech-
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0065"n="61"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p>Hier fieng <hirendition="#fr">Michel</hi> an zu weinen.<lb/>
Und wißt ihr denn nicht, daß es heiſt: Chriſtus<lb/>
der Herr iſt fuͤr <hirendition="#fr">alle</hi> geſtorben? fuͤr die chriſtkatho-<lb/>
liſche, wie fuͤr die Ketzer. Jhr duͤrft deswegen<lb/>
nicht lutheriſch werden; da behuͤt mich Gott davor,<lb/>
euch ſo was zu rathen. Es iſt immer beſſer, den<lb/>
geraden Weg gegangen, als den krummen. Aber<lb/>
friedlich und nachbarlich ſollt ihr leben; und ich<lb/>
wollt, wir haͤtten all Einen Glauben!</p><lb/><p>Und was ſeyd ihr denn fuͤr ein Mann, <hirendition="#fr">Mi-<lb/>
chel?</hi> Da iſts euch nicht genug mit den Ketzern<lb/>ſo unmenſchlich umzugehn; da muß noch eure<lb/>
arme Frau dran, die beſſer und chriſtlicher denkt,<lb/>
als ihr. Da entſteht Unfried im Haus druͤber;<lb/>
Eure Kinder ſchlagt ihr auch, und gebt ein boͤſes<lb/>
Exempel. Aber ich weiß wol, wo der Schaden<lb/>
liegt; ihr ſeyd geitzig, haͤngt am Zeitlichen, und<lb/>
meynt, ihr muͤßt alles allein zuſammen ſcharren,<lb/>
damit’s fein einen groſſen Hauſen gebe. Das ſind<lb/>
mir die rechten Chriſten! Jch habs vorhin wol<lb/>
gemerkt, ihr werft ihr vor, ſie geb den Armen<lb/>
viel. Sie thut recht dran, und Gott wird ihrs<lb/>
einſt im Himmel noch vergelten, wo ihr nicht hin<lb/>
kommt, wenn ihrs ſo macht. Jhr ſeyd ein ſchlech-<lb/></p></div></body></text></TEI>
[61/0065]
Hier fieng Michel an zu weinen.
Und wißt ihr denn nicht, daß es heiſt: Chriſtus
der Herr iſt fuͤr alle geſtorben? fuͤr die chriſtkatho-
liſche, wie fuͤr die Ketzer. Jhr duͤrft deswegen
nicht lutheriſch werden; da behuͤt mich Gott davor,
euch ſo was zu rathen. Es iſt immer beſſer, den
geraden Weg gegangen, als den krummen. Aber
friedlich und nachbarlich ſollt ihr leben; und ich
wollt, wir haͤtten all Einen Glauben!
Und was ſeyd ihr denn fuͤr ein Mann, Mi-
chel? Da iſts euch nicht genug mit den Ketzern
ſo unmenſchlich umzugehn; da muß noch eure
arme Frau dran, die beſſer und chriſtlicher denkt,
als ihr. Da entſteht Unfried im Haus druͤber;
Eure Kinder ſchlagt ihr auch, und gebt ein boͤſes
Exempel. Aber ich weiß wol, wo der Schaden
liegt; ihr ſeyd geitzig, haͤngt am Zeitlichen, und
meynt, ihr muͤßt alles allein zuſammen ſcharren,
damit’s fein einen groſſen Hauſen gebe. Das ſind
mir die rechten Chriſten! Jch habs vorhin wol
gemerkt, ihr werft ihr vor, ſie geb den Armen
viel. Sie thut recht dran, und Gott wird ihrs
einſt im Himmel noch vergelten, wo ihr nicht hin
kommt, wenn ihrs ſo macht. Jhr ſeyd ein ſchlech-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/65>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.