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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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schon eine halbe Stunde mit dem Essen auf ihn
gewartet. Als er nicht kam, gieng er zu ihm auf
sein Zimmer. Siegwart fuhr zusammen. -- Was
treibst du denn, Xaver? Jch warte schon über eine
Stunde auf dich. Das Essen steht schon eine hal-
be Stunde auf dem Zimmer; es wird ganz kalt. --
So? ists denn schon Essenszeit? Das kann ja
kaum seyn! -- Je freylich! antwortete Kron-
helm; sieh nur nach der Uhr! Es ist schon halb
Eins. -- Siegwart gieng schweigend mit ihm
auf sein Zimmer, und sprach während dem Essen
fast kein Wort; auch aß er wenig. -- Kronhelm,
der mit seinen Gedanken bey Theresen war, merkte
davon nichts. Nach Tische gieng Siegwart auf
sein Zimmer, unter dem Vorwand, daß er Briefe
nach Haus zu schreiben habe. Kronhelm trug ihm
einen Gruß an Theresen auf. Siegwart schrieb
nicht, sondern gieng nur hin und her. Er wollte
das Mädchen und ihren andächtigen Blick wieder
vergessen, dachte an tausend verschiedne Dinge,
aber immer am Ende wieder an sie. Zuweilen
phantasirte er auf seiner Violine; gleich war ihms
wieder entleidet, und er hieng sie wieder auf. Um
halb vier Uhr holte ihn Kronhelm ab, um
zu Gutfried zu gehen, wo sie ein wöchentliches



ſchon eine halbe Stunde mit dem Eſſen auf ihn
gewartet. Als er nicht kam, gieng er zu ihm auf
ſein Zimmer. Siegwart fuhr zuſammen. — Was
treibſt du denn, Xaver? Jch warte ſchon uͤber eine
Stunde auf dich. Das Eſſen ſteht ſchon eine hal-
be Stunde auf dem Zimmer; es wird ganz kalt. —
So? iſts denn ſchon Eſſenszeit? Das kann ja
kaum ſeyn! — Je freylich! antwortete Kron-
helm; ſieh nur nach der Uhr! Es iſt ſchon halb
Eins. — Siegwart gieng ſchweigend mit ihm
auf ſein Zimmer, und ſprach waͤhrend dem Eſſen
faſt kein Wort; auch aß er wenig. — Kronhelm,
der mit ſeinen Gedanken bey Thereſen war, merkte
davon nichts. Nach Tiſche gieng Siegwart auf
ſein Zimmer, unter dem Vorwand, daß er Briefe
nach Haus zu ſchreiben habe. Kronhelm trug ihm
einen Gruß an Thereſen auf. Siegwart ſchrieb
nicht, ſondern gieng nur hin und her. Er wollte
das Maͤdchen und ihren andaͤchtigen Blick wieder
vergeſſen, dachte an tauſend verſchiedne Dinge,
aber immer am Ende wieder an ſie. Zuweilen
phantaſirte er auf ſeiner Violine; gleich war ihms
wieder entleidet, und er hieng ſie wieder auf. Um
halb vier Uhr holte ihn Kronhelm ab, um
zu Gutfried zu gehen, wo ſie ein woͤchentliches

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[565/0145] ſchon eine halbe Stunde mit dem Eſſen auf ihn gewartet. Als er nicht kam, gieng er zu ihm auf ſein Zimmer. Siegwart fuhr zuſammen. — Was treibſt du denn, Xaver? Jch warte ſchon uͤber eine Stunde auf dich. Das Eſſen ſteht ſchon eine hal- be Stunde auf dem Zimmer; es wird ganz kalt. — So? iſts denn ſchon Eſſenszeit? Das kann ja kaum ſeyn! — Je freylich! antwortete Kron- helm; ſieh nur nach der Uhr! Es iſt ſchon halb Eins. — Siegwart gieng ſchweigend mit ihm auf ſein Zimmer, und ſprach waͤhrend dem Eſſen faſt kein Wort; auch aß er wenig. — Kronhelm, der mit ſeinen Gedanken bey Thereſen war, merkte davon nichts. Nach Tiſche gieng Siegwart auf ſein Zimmer, unter dem Vorwand, daß er Briefe nach Haus zu ſchreiben habe. Kronhelm trug ihm einen Gruß an Thereſen auf. Siegwart ſchrieb nicht, ſondern gieng nur hin und her. Er wollte das Maͤdchen und ihren andaͤchtigen Blick wieder vergeſſen, dachte an tauſend verſchiedne Dinge, aber immer am Ende wieder an ſie. Zuweilen phantaſirte er auf ſeiner Violine; gleich war ihms wieder entleidet, und er hieng ſie wieder auf. Um halb vier Uhr holte ihn Kronhelm ab, um zu Gutfried zu gehen, wo ſie ein woͤchentliches

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 565. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/145>, abgerufen am 29.11.2024.