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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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Bette gegangen. Alle Begebenheiten des vorigen
Tags und des schönsten Abends schwebten in glän-
zendem Gemisch vor ihm herum. Wenn er sich
einen Umstand besonders denken wollte, so fielen
ihm zwanzig andre ein. Es war ihm, als ob er
ein buntes Tulpenbeet vor sich sähe, deren jede
schön ist, aber er konnte keine einzeln betrachten.
Sein Geist irrte, wie ein Schmetterling von einer
Blume zu der andern. Zuletzt ward ihms vor
den Augen dämmerig. Er sah nur noch Far-
ben vor sich. Alle flossen in einander. Ma-
riane war der Hauptgedanke, den er sich unter tau-
senderley Gestalten dachte. Er wiederholte alle
Gespräche, die er mit ihr geführt hatte, und är-
gerte sich, daß er so wenig gesprochen hatte. Jetzt,
dachte er, jetzt sollte sie da seyn! Jetzt wollt' ich
ihr alles sagen, ihr mein ganzes Herz ausschütten,
u. s. w.

Jm Bette konnte er nicht schlafen. Der Tanz,
den er mit ihr zuerst getanzt hatte, schallte ihm
immer in den Ohren. Wenn er die Augen zumach-
te, so war ihms, als ob er mit ihr im Kreis herum-
flöge, vor ihr stünde, ihr ins Auge blickte, und
sie bey der Hand faßte. Aus dem leisesten Schlum-
mer fuhr er wieder auf, denn es dauchte ihm, ein



Bette gegangen. Alle Begebenheiten des vorigen
Tags und des ſchoͤnſten Abends ſchwebten in glaͤn-
zendem Gemiſch vor ihm herum. Wenn er ſich
einen Umſtand beſonders denken wollte, ſo fielen
ihm zwanzig andre ein. Es war ihm, als ob er
ein buntes Tulpenbeet vor ſich ſaͤhe, deren jede
ſchoͤn iſt, aber er konnte keine einzeln betrachten.
Sein Geiſt irrte, wie ein Schmetterling von einer
Blume zu der andern. Zuletzt ward ihms vor
den Augen daͤmmerig. Er ſah nur noch Far-
ben vor ſich. Alle floſſen in einander. Ma-
riane war der Hauptgedanke, den er ſich unter tau-
ſenderley Geſtalten dachte. Er wiederholte alle
Geſpraͤche, die er mit ihr gefuͤhrt hatte, und aͤr-
gerte ſich, daß er ſo wenig geſprochen hatte. Jetzt,
dachte er, jetzt ſollte ſie da ſeyn! Jetzt wollt’ ich
ihr alles ſagen, ihr mein ganzes Herz ausſchuͤtten,
u. ſ. w.

Jm Bette konnte er nicht ſchlafen. Der Tanz,
den er mit ihr zuerſt getanzt hatte, ſchallte ihm
immer in den Ohren. Wenn er die Augen zumach-
te, ſo war ihms, als ob er mit ihr im Kreis herum-
floͤge, vor ihr ſtuͤnde, ihr ins Auge blickte, und
ſie bey der Hand faßte. Aus dem leiſeſten Schlum-
mer fuhr er wieder auf, denn es dauchte ihm, ein

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[676/0256] Bette gegangen. Alle Begebenheiten des vorigen Tags und des ſchoͤnſten Abends ſchwebten in glaͤn- zendem Gemiſch vor ihm herum. Wenn er ſich einen Umſtand beſonders denken wollte, ſo fielen ihm zwanzig andre ein. Es war ihm, als ob er ein buntes Tulpenbeet vor ſich ſaͤhe, deren jede ſchoͤn iſt, aber er konnte keine einzeln betrachten. Sein Geiſt irrte, wie ein Schmetterling von einer Blume zu der andern. Zuletzt ward ihms vor den Augen daͤmmerig. Er ſah nur noch Far- ben vor ſich. Alle floſſen in einander. Ma- riane war der Hauptgedanke, den er ſich unter tau- ſenderley Geſtalten dachte. Er wiederholte alle Geſpraͤche, die er mit ihr gefuͤhrt hatte, und aͤr- gerte ſich, daß er ſo wenig geſprochen hatte. Jetzt, dachte er, jetzt ſollte ſie da ſeyn! Jetzt wollt’ ich ihr alles ſagen, ihr mein ganzes Herz ausſchuͤtten, u. ſ. w. Jm Bette konnte er nicht ſchlafen. Der Tanz, den er mit ihr zuerſt getanzt hatte, ſchallte ihm immer in den Ohren. Wenn er die Augen zumach- te, ſo war ihms, als ob er mit ihr im Kreis herum- floͤge, vor ihr ſtuͤnde, ihr ins Auge blickte, und ſie bey der Hand faßte. Aus dem leiſeſten Schlum- mer fuhr er wieder auf, denn es dauchte ihm, ein

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 676. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/256>, abgerufen am 22.11.2024.