andächtigsten, oft bigottesten Miene, und dem Ro- senkranz in der Hand, nach den Kirchen zuschli- chen. Aberglauben und Unglauben schien sich hier ewig zu durchkreuzen. Als er eine Kirche vorbey- kam, gieng er hinein. Auf einmal dachte er an Marianen, gieng in einen Stuhl, warf sich auf die Knie, und betete mit heisser Jnnbrunst, und mit Thränen in den Augen. Nun fühlte er erst ganz das Glück der Ruhe und der Liebe, das er in ihrem Arm genossen hatte; und jetzt entbehren muste. Mit ungewöhnlich starker Sehnsucht sehn- te er sich nach ihr zurück. Jn der Kirche sah er noch mehr die große Kluft zwischen Andacht und Frechheit. Das gemeine Volk lag in tiefster De- muth vor Gott, und die vornehmen jungen Herren und Frauenzimmer stunden frech in ihren goldnen oder seidnen Kleidern da, begafften sich mit stolzer Selbstzufriedenheit; warfen sich, anstatt zum Him- mel zu blicken, und in Demuth vor Gott zu er- scheinen, buhlerische Blicke zu, und vergassen alle Ehrerbietung, die man in einem Gotteshause zei- gen sollte. Siegwart gieng, mit einem schweren Seufzer aus der Kirche, und nach seinem Gasthof zurück.
andaͤchtigſten, oft bigotteſten Miene, und dem Ro- ſenkranz in der Hand, nach den Kirchen zuſchli- chen. Aberglauben und Unglauben ſchien ſich hier ewig zu durchkreuzen. Als er eine Kirche vorbey- kam, gieng er hinein. Auf einmal dachte er an Marianen, gieng in einen Stuhl, warf ſich auf die Knie, und betete mit heiſſer Jnnbrunſt, und mit Thraͤnen in den Augen. Nun fuͤhlte er erſt ganz das Gluͤck der Ruhe und der Liebe, das er in ihrem Arm genoſſen hatte; und jetzt entbehren muſte. Mit ungewoͤhnlich ſtarker Sehnſucht ſehn- te er ſich nach ihr zuruͤck. Jn der Kirche ſah er noch mehr die große Kluft zwiſchen Andacht und Frechheit. Das gemeine Volk lag in tiefſter De- muth vor Gott, und die vornehmen jungen Herren und Frauenzimmer ſtunden frech in ihren goldnen oder ſeidnen Kleidern da, begafften ſich mit ſtolzer Selbſtzufriedenheit; warfen ſich, anſtatt zum Him- mel zu blicken, und in Demuth vor Gott zu er- ſcheinen, buhleriſche Blicke zu, und vergaſſen alle Ehrerbietung, die man in einem Gotteshauſe zei- gen ſollte. Siegwart gieng, mit einem ſchweren Seufzer aus der Kirche, und nach ſeinem Gaſthof zuruͤck.
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andaͤchtigſten, oft bigotteſten Miene, und dem Ro-
ſenkranz in der Hand, nach den Kirchen zuſchli-
chen. Aberglauben und Unglauben ſchien ſich hier
ewig zu durchkreuzen. Als er eine Kirche vorbey-
kam, gieng er hinein. Auf einmal dachte er an
Marianen, gieng in einen Stuhl, warf ſich auf
die Knie, und betete mit heiſſer Jnnbrunſt, und
mit Thraͤnen in den Augen. Nun fuͤhlte er erſt
ganz das Gluͤck der Ruhe und der Liebe, das er
in ihrem Arm genoſſen hatte; und jetzt entbehren
muſte. Mit ungewoͤhnlich ſtarker Sehnſucht ſehn-
te er ſich nach ihr zuruͤck. Jn der Kirche ſah er
noch mehr die große Kluft zwiſchen Andacht und
Frechheit. Das gemeine Volk lag in tiefſter De-
muth vor Gott, und die vornehmen jungen Herren
und Frauenzimmer ſtunden frech in ihren goldnen
oder ſeidnen Kleidern da, begafften ſich mit ſtolzer
Selbſtzufriedenheit; warfen ſich, anſtatt zum Him-
mel zu blicken, und in Demuth vor Gott zu er-
ſcheinen, buhleriſche Blicke zu, und vergaſſen alle
Ehrerbietung, die man in einem Gotteshauſe zei-
gen ſollte. Siegwart gieng, mit einem ſchweren
Seufzer aus der Kirche, und nach ſeinem Gaſthof
zuruͤck.
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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 723. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/303>, abgerufen am 22.11.2024.
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