Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

Bild:
<< vorherige Seite



Oratorium aufgeführt, das aller Herzen hob, und
mit Aussichten in die Ewigkeit erfüllte.

Marx ging mit Kronhelm und Siegwart heim.
Er sprach lange nichts. Endlich sagte er: Er glau-
be, im Himmel werde einst lauter Musik gemacht
werden, denn schöners könne man wol nichts er-
denken. Siegwart und Kronhelm legten sich noch
in den Kleidern drey oder vier Stunden zu Bette,
und mit Sonnenaufgang ritten sie aus der Stadt
weg. Siegwart freute sich unaussprechlich, seine
Mariane bald wieder zu sehen. Sein Pferd lief
ihm viel zu langsam, und er konnte den Abend
kaum erwarten. Auf dem ganzen Wege fiel nichts
wichtiges vor. Die beyden Freunde unterhielten
sich wechselsweis von ihrem Glück, und kamen,
mit dem Bedienten, Abends ziemlich früh in Jn-
golstadt an, weil Siegwart so sehr getrieben hatte.
Seine Mariane lag im Fenster, und winkte ihm
mit den Augen, daß er sie besuchen möchte. Er hatte
auch kaum seine Reisekleider ausgezogen, so gieng
er mit Kronhelm hinüber. Der Hofrath Fischer
war allein bey seiner Tochter im Zimmer, weil die
Mutter zu der Schwiegertochter gegangen war,
die sich nicht recht wohl befand. Die Liebenden
sahn einander mit einer Sehnsucht an, als ob sie



Oratorium aufgefuͤhrt, das aller Herzen hob, und
mit Ausſichten in die Ewigkeit erfuͤllte.

Marx ging mit Kronhelm und Siegwart heim.
Er ſprach lange nichts. Endlich ſagte er: Er glau-
be, im Himmel werde einſt lauter Muſik gemacht
werden, denn ſchoͤners koͤnne man wol nichts er-
denken. Siegwart und Kronhelm legten ſich noch
in den Kleidern drey oder vier Stunden zu Bette,
und mit Sonnenaufgang ritten ſie aus der Stadt
weg. Siegwart freute ſich unausſprechlich, ſeine
Mariane bald wieder zu ſehen. Sein Pferd lief
ihm viel zu langſam, und er konnte den Abend
kaum erwarten. Auf dem ganzen Wege fiel nichts
wichtiges vor. Die beyden Freunde unterhielten
ſich wechſelsweis von ihrem Gluͤck, und kamen,
mit dem Bedienten, Abends ziemlich fruͤh in Jn-
golſtadt an, weil Siegwart ſo ſehr getrieben hatte.
Seine Mariane lag im Fenſter, und winkte ihm
mit den Augen, daß er ſie beſuchen moͤchte. Er hatte
auch kaum ſeine Reiſekleider ausgezogen, ſo gieng
er mit Kronhelm hinuͤber. Der Hofrath Fiſcher
war allein bey ſeiner Tochter im Zimmer, weil die
Mutter zu der Schwiegertochter gegangen war,
die ſich nicht recht wohl befand. Die Liebenden
ſahn einander mit einer Sehnſucht an, als ob ſie

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0319" n="739"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
Oratorium aufgefu&#x0364;hrt, das aller Herzen hob, und<lb/>
mit Aus&#x017F;ichten in die Ewigkeit erfu&#x0364;llte.</p><lb/>
        <p><hi rendition="#fr">Marx</hi> ging mit <hi rendition="#fr">Kronhelm</hi> und <hi rendition="#fr">Siegwart</hi> heim.<lb/>
Er &#x017F;prach lange nichts. Endlich &#x017F;agte er: Er glau-<lb/>
be, im Himmel werde ein&#x017F;t lauter Mu&#x017F;ik gemacht<lb/>
werden, denn &#x017F;cho&#x0364;ners ko&#x0364;nne man wol nichts er-<lb/>
denken. Siegwart und Kronhelm legten &#x017F;ich noch<lb/>
in den Kleidern drey oder vier Stunden zu Bette,<lb/>
und mit Sonnenaufgang ritten &#x017F;ie aus der Stadt<lb/>
weg. Siegwart freute &#x017F;ich unaus&#x017F;prechlich, &#x017F;eine<lb/>
Mariane bald wieder zu &#x017F;ehen. Sein Pferd lief<lb/>
ihm viel zu lang&#x017F;am, und er konnte den Abend<lb/>
kaum erwarten. Auf dem ganzen Wege fiel nichts<lb/>
wichtiges vor. Die beyden Freunde unterhielten<lb/>
&#x017F;ich wech&#x017F;elsweis von ihrem Glu&#x0364;ck, und kamen,<lb/>
mit dem Bedienten, Abends ziemlich fru&#x0364;h in Jn-<lb/>
gol&#x017F;tadt an, weil Siegwart &#x017F;o &#x017F;ehr getrieben hatte.<lb/>
Seine Mariane lag im Fen&#x017F;ter, und winkte ihm<lb/>
mit den Augen, daß er &#x017F;ie be&#x017F;uchen mo&#x0364;chte. Er hatte<lb/>
auch kaum &#x017F;eine Rei&#x017F;ekleider ausgezogen, &#x017F;o gieng<lb/>
er mit Kronhelm hinu&#x0364;ber. Der Hofrath Fi&#x017F;cher<lb/>
war allein bey &#x017F;einer Tochter im Zimmer, weil die<lb/>
Mutter zu der Schwiegertochter gegangen war,<lb/>
die &#x017F;ich nicht recht wohl befand. Die Liebenden<lb/>
&#x017F;ahn einander mit einer Sehn&#x017F;ucht an, als ob &#x017F;ie<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[739/0319] Oratorium aufgefuͤhrt, das aller Herzen hob, und mit Ausſichten in die Ewigkeit erfuͤllte. Marx ging mit Kronhelm und Siegwart heim. Er ſprach lange nichts. Endlich ſagte er: Er glau- be, im Himmel werde einſt lauter Muſik gemacht werden, denn ſchoͤners koͤnne man wol nichts er- denken. Siegwart und Kronhelm legten ſich noch in den Kleidern drey oder vier Stunden zu Bette, und mit Sonnenaufgang ritten ſie aus der Stadt weg. Siegwart freute ſich unausſprechlich, ſeine Mariane bald wieder zu ſehen. Sein Pferd lief ihm viel zu langſam, und er konnte den Abend kaum erwarten. Auf dem ganzen Wege fiel nichts wichtiges vor. Die beyden Freunde unterhielten ſich wechſelsweis von ihrem Gluͤck, und kamen, mit dem Bedienten, Abends ziemlich fruͤh in Jn- golſtadt an, weil Siegwart ſo ſehr getrieben hatte. Seine Mariane lag im Fenſter, und winkte ihm mit den Augen, daß er ſie beſuchen moͤchte. Er hatte auch kaum ſeine Reiſekleider ausgezogen, ſo gieng er mit Kronhelm hinuͤber. Der Hofrath Fiſcher war allein bey ſeiner Tochter im Zimmer, weil die Mutter zu der Schwiegertochter gegangen war, die ſich nicht recht wohl befand. Die Liebenden ſahn einander mit einer Sehnſucht an, als ob ſie

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/319
Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 739. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/319>, abgerufen am 22.11.2024.