Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

Bild:
<< vorherige Seite



den Wunsch aus den Augen lesen konnte: Wenn
doch meine armen Kinder davon hätten! Das gieng
mir durch Mark und Bein, und ich dachte: Jch
möchte nie ein Fürst, oder eine Fürstin seyn, wenn
ich fürstlich leben müßte. Zumal wenn man denkt,
daß mehrentheils der Schweiß der Unterthanen auf
den Tisch kommt! --

Frau Held hatte nach Tisch mit Karolinen einige
Haushaltungsgeschäfte zu besorgen. Siegwart gieng
mit Marianen nach dem Wäldchen. Sie haben
gestern Abend, fieng Mariane an, mir mit Jhrer
Flöte noch viel Vergnügen gemacht. Jch konnts noch
hören, als ich schon zu Bette lag. Es war, als
ob ich Jhre Seele sprechen hörte. Ueberhaupt ist
der Flötenton der Ton der Liebe, oder des guten
Herzens. Wenn ich einen gut die Flöte spielen
höre, so ist mirs kaum möglich, zu glauben, daß
dieser Mensch, wenigstens in diesem Augenblick,
etwas Böses denken, oder ausüben könne. So
geht mirs fast bey allen Jnstrumenten, sagte
Siegwart.

Sie waren nun im Wäldchen. Gott! Was ist
da geschehen! sagte Siegwart. Der Apfelbaum,
unter dem sie auf der Rasenbank gesessen hatten,
war vom Blitz entzwey geborsten. Die Aeste la-



den Wunſch aus den Augen leſen konnte: Wenn
doch meine armen Kinder davon haͤtten! Das gieng
mir durch Mark und Bein, und ich dachte: Jch
moͤchte nie ein Fuͤrſt, oder eine Fuͤrſtin ſeyn, wenn
ich fuͤrſtlich leben muͤßte. Zumal wenn man denkt,
daß mehrentheils der Schweiß der Unterthanen auf
den Tiſch kommt! —

Frau Held hatte nach Tiſch mit Karolinen einige
Haushaltungsgeſchaͤfte zu beſorgen. Siegwart gieng
mit Marianen nach dem Waͤldchen. Sie haben
geſtern Abend, fieng Mariane an, mir mit Jhrer
Floͤte noch viel Vergnuͤgen gemacht. Jch konnts noch
hoͤren, als ich ſchon zu Bette lag. Es war, als
ob ich Jhre Seele ſprechen hoͤrte. Ueberhaupt iſt
der Floͤtenton der Ton der Liebe, oder des guten
Herzens. Wenn ich einen gut die Floͤte ſpielen
hoͤre, ſo iſt mirs kaum moͤglich, zu glauben, daß
dieſer Menſch, wenigſtens in dieſem Augenblick,
etwas Boͤſes denken, oder ausuͤben koͤnne. So
geht mirs faſt bey allen Jnſtrumenten, ſagte
Siegwart.

Sie waren nun im Waͤldchen. Gott! Was iſt
da geſchehen! ſagte Siegwart. Der Apfelbaum,
unter dem ſie auf der Raſenbank geſeſſen hatten,
war vom Blitz entzwey geborſten. Die Aeſte la-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0442" n="862"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
den Wun&#x017F;ch aus den Augen le&#x017F;en konnte: Wenn<lb/>
doch meine armen Kinder davon ha&#x0364;tten! Das gieng<lb/>
mir durch Mark und Bein, und ich dachte: Jch<lb/>
mo&#x0364;chte nie ein Fu&#x0364;r&#x017F;t, oder eine Fu&#x0364;r&#x017F;tin &#x017F;eyn, wenn<lb/>
ich fu&#x0364;r&#x017F;tlich leben mu&#x0364;ßte. Zumal wenn man denkt,<lb/>
daß mehrentheils der Schweiß der Unterthanen auf<lb/>
den Ti&#x017F;ch kommt! &#x2014;</p><lb/>
        <p>Frau Held hatte nach Ti&#x017F;ch mit Karolinen einige<lb/>
Haushaltungsge&#x017F;cha&#x0364;fte zu be&#x017F;orgen. Siegwart gieng<lb/>
mit Marianen nach dem Wa&#x0364;ldchen. Sie haben<lb/>
ge&#x017F;tern Abend, fieng Mariane an, mir mit Jhrer<lb/>
Flo&#x0364;te noch viel Vergnu&#x0364;gen gemacht. Jch konnts noch<lb/>
ho&#x0364;ren, als ich &#x017F;chon zu Bette lag. Es war, als<lb/>
ob ich Jhre Seele &#x017F;prechen ho&#x0364;rte. Ueberhaupt i&#x017F;t<lb/>
der Flo&#x0364;tenton der Ton der Liebe, oder des guten<lb/>
Herzens. Wenn ich einen gut die Flo&#x0364;te &#x017F;pielen<lb/>
ho&#x0364;re, &#x017F;o i&#x017F;t mirs kaum mo&#x0364;glich, zu glauben, daß<lb/>
die&#x017F;er Men&#x017F;ch, wenig&#x017F;tens in die&#x017F;em Augenblick,<lb/>
etwas Bo&#x0364;&#x017F;es denken, oder ausu&#x0364;ben ko&#x0364;nne. So<lb/>
geht mirs fa&#x017F;t bey allen Jn&#x017F;trumenten, &#x017F;agte<lb/>
Siegwart.</p><lb/>
        <p>Sie waren nun im Wa&#x0364;ldchen. Gott! Was i&#x017F;t<lb/>
da ge&#x017F;chehen! &#x017F;agte Siegwart. Der Apfelbaum,<lb/>
unter dem &#x017F;ie auf der Ra&#x017F;enbank ge&#x017F;e&#x017F;&#x017F;en hatten,<lb/>
war vom Blitz entzwey gebor&#x017F;ten. Die Ae&#x017F;te la-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[862/0442] den Wunſch aus den Augen leſen konnte: Wenn doch meine armen Kinder davon haͤtten! Das gieng mir durch Mark und Bein, und ich dachte: Jch moͤchte nie ein Fuͤrſt, oder eine Fuͤrſtin ſeyn, wenn ich fuͤrſtlich leben muͤßte. Zumal wenn man denkt, daß mehrentheils der Schweiß der Unterthanen auf den Tiſch kommt! — Frau Held hatte nach Tiſch mit Karolinen einige Haushaltungsgeſchaͤfte zu beſorgen. Siegwart gieng mit Marianen nach dem Waͤldchen. Sie haben geſtern Abend, fieng Mariane an, mir mit Jhrer Floͤte noch viel Vergnuͤgen gemacht. Jch konnts noch hoͤren, als ich ſchon zu Bette lag. Es war, als ob ich Jhre Seele ſprechen hoͤrte. Ueberhaupt iſt der Floͤtenton der Ton der Liebe, oder des guten Herzens. Wenn ich einen gut die Floͤte ſpielen hoͤre, ſo iſt mirs kaum moͤglich, zu glauben, daß dieſer Menſch, wenigſtens in dieſem Augenblick, etwas Boͤſes denken, oder ausuͤben koͤnne. So geht mirs faſt bey allen Jnſtrumenten, ſagte Siegwart. Sie waren nun im Waͤldchen. Gott! Was iſt da geſchehen! ſagte Siegwart. Der Apfelbaum, unter dem ſie auf der Raſenbank geſeſſen hatten, war vom Blitz entzwey geborſten. Die Aeſte la-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/442
Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 862. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/442>, abgerufen am 22.11.2024.