Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.stürzung; das Bild wollte nicht aus seiner Seele zurückweichen, und sobald er seinen Schwager und seine Schwester sah, erzählte er es ihnen. Diese gaben sich alle Mühe, ihm die traurige Vorstellung aus dem Herzen zu verbannen, und ihn zu über- zeugen, wie wenig man auf einen Traum gehen müsse, da sich dieser gewöhnlich nach der vorher- gegangenen Lage des Gemüthes bilde. Er vergaß den Traum zwar etwas, aber nur, solang er in Gesellschaft war; in der Einsamkeit stand er im- mer wieder lebhaft vor ihm da, und verfolgte ihn mit seinen Schrecken. Sein Schwager und seine Schwester gaben sich alle mögliche Mühe, ihn zu zerstreuen, und nur in etwas aufzuheitern. Sie wiesen ihm ihr Schloß, wo alles neu, und sehr bequem eingerichtet war, ohne ins Prächtige zu verfallen. Sie führten ihn in den Garten, wo sie alles umgraben, erweitern, und mit einem Geschmack hatten anlegen lassen, der der Natur soviel, als möglich, nahe kam. Siegwart, dieser sonst so eifrige Freund der Natur, sah alles mit einer kalten und erzwungenen Bewunderung an, so wie ein Kranker die Speisen ansieht, die er ehmals in gesunden Tagen sehr geliebt hatte, und nun nicht geniessen kann. Oft zwang er sich, seinen ſtuͤrzung; das Bild wollte nicht aus ſeiner Seele zuruͤckweichen, und ſobald er ſeinen Schwager und ſeine Schweſter ſah, erzaͤhlte er es ihnen. Dieſe gaben ſich alle Muͤhe, ihm die traurige Vorſtellung aus dem Herzen zu verbannen, und ihn zu uͤber- zeugen, wie wenig man auf einen Traum gehen muͤſſe, da ſich dieſer gewoͤhnlich nach der vorher- gegangenen Lage des Gemuͤthes bilde. Er vergaß den Traum zwar etwas, aber nur, ſolang er in Geſellſchaft war; in der Einſamkeit ſtand er im- mer wieder lebhaft vor ihm da, und verfolgte ihn mit ſeinen Schrecken. Sein Schwager und ſeine Schweſter gaben ſich alle moͤgliche Muͤhe, ihn zu zerſtreuen, und nur in etwas aufzuheitern. Sie wieſen ihm ihr Schloß, wo alles neu, und ſehr bequem eingerichtet war, ohne ins Praͤchtige zu verfallen. Sie fuͤhrten ihn in den Garten, wo ſie alles umgraben, erweitern, und mit einem Geſchmack hatten anlegen laſſen, der der Natur ſoviel, als moͤglich, nahe kam. Siegwart, dieſer ſonſt ſo eifrige Freund der Natur, ſah alles mit einer kalten und erzwungenen Bewunderung an, ſo wie ein Kranker die Speiſen anſieht, die er ehmals in geſunden Tagen ſehr geliebt hatte, und nun nicht genieſſen kann. Oft zwang er ſich, ſeinen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0547" n="967"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> ſtuͤrzung; das Bild wollte nicht aus ſeiner Seele<lb/> zuruͤckweichen, und ſobald er ſeinen Schwager und<lb/> ſeine Schweſter ſah, erzaͤhlte er es ihnen. Dieſe<lb/> gaben ſich alle Muͤhe, ihm die traurige Vorſtellung<lb/> aus dem Herzen zu verbannen, und ihn zu uͤber-<lb/> zeugen, wie wenig man auf einen Traum gehen<lb/> muͤſſe, da ſich dieſer gewoͤhnlich nach der vorher-<lb/> gegangenen Lage des Gemuͤthes bilde. Er vergaß<lb/> den Traum zwar etwas, aber nur, ſolang er in<lb/> Geſellſchaft war; in der Einſamkeit ſtand er im-<lb/> mer wieder lebhaft vor ihm da, und verfolgte ihn<lb/> mit ſeinen Schrecken. Sein Schwager und ſeine<lb/> Schweſter gaben ſich alle moͤgliche Muͤhe, ihn zu<lb/> zerſtreuen, und nur in etwas aufzuheitern. Sie<lb/> wieſen ihm ihr Schloß, wo alles neu, und ſehr<lb/> bequem eingerichtet war, ohne ins Praͤchtige zu<lb/> verfallen. Sie fuͤhrten ihn in den Garten, wo<lb/> ſie alles umgraben, erweitern, und mit einem<lb/> Geſchmack hatten anlegen laſſen, der der Natur<lb/> ſoviel, als moͤglich, nahe kam. Siegwart, dieſer<lb/> ſonſt ſo eifrige Freund der Natur, ſah alles mit<lb/> einer kalten und erzwungenen Bewunderung an,<lb/> ſo wie ein Kranker die Speiſen anſieht, die er<lb/> ehmals in geſunden Tagen ſehr geliebt hatte, und nun<lb/> nicht genieſſen kann. Oft zwang er ſich, ſeinen<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [967/0547]
ſtuͤrzung; das Bild wollte nicht aus ſeiner Seele
zuruͤckweichen, und ſobald er ſeinen Schwager und
ſeine Schweſter ſah, erzaͤhlte er es ihnen. Dieſe
gaben ſich alle Muͤhe, ihm die traurige Vorſtellung
aus dem Herzen zu verbannen, und ihn zu uͤber-
zeugen, wie wenig man auf einen Traum gehen
muͤſſe, da ſich dieſer gewoͤhnlich nach der vorher-
gegangenen Lage des Gemuͤthes bilde. Er vergaß
den Traum zwar etwas, aber nur, ſolang er in
Geſellſchaft war; in der Einſamkeit ſtand er im-
mer wieder lebhaft vor ihm da, und verfolgte ihn
mit ſeinen Schrecken. Sein Schwager und ſeine
Schweſter gaben ſich alle moͤgliche Muͤhe, ihn zu
zerſtreuen, und nur in etwas aufzuheitern. Sie
wieſen ihm ihr Schloß, wo alles neu, und ſehr
bequem eingerichtet war, ohne ins Praͤchtige zu
verfallen. Sie fuͤhrten ihn in den Garten, wo
ſie alles umgraben, erweitern, und mit einem
Geſchmack hatten anlegen laſſen, der der Natur
ſoviel, als moͤglich, nahe kam. Siegwart, dieſer
ſonſt ſo eifrige Freund der Natur, ſah alles mit
einer kalten und erzwungenen Bewunderung an,
ſo wie ein Kranker die Speiſen anſieht, die er
ehmals in geſunden Tagen ſehr geliebt hatte, und nun
nicht genieſſen kann. Oft zwang er ſich, ſeinen
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |