Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.wieder traurig und weinte. Alle Abend legte er der Aebtissin am Sprachgitter Rechenschaft von seiner Arbeit ab. Sie schien täglich mit ihm zu- friedener zu seyn. Zuweilen sah er noch mehrere Nonnen in dem Sprachzimmer. Die heftigste Unruhe quälte ihn, ob nicht seine Mariane mit unter den Nonnen sey? Aber vor dem Schleyer konnt' er sie nicht erkennen. Einmal hub eine von den Nonnen, die in der Ecke des Sprachzimmers stand, ihren Schleyer etwas auf. Es war Maria- ne. Jhr Gesicht war todtbleich. Er ward durch den Anblick wie vom Donner gerührt. Bald ward sein Gesicht feuerroth, bald todtblaß, er stotterte, gab der Aebtissin lauter verwirrte Ant- worten; seine Knie zitterten, daß er kaum mehr stehen konnte. Zu allem Glück ließ ihn die Aeb- tissin sogleich von sich. Er lief auf seine Kammer, und fiel halb ohnmächtig aufs Bette. Ein Strom von Thränen schaffte ihm endlich Erleichterung. Er warf sich auf seine Knie, und bethete so in- brünstig, als er fast noch nie in seinem Leben ge- bethet hatte, daß ihm Gott beystehen wolle, sei- nen Engel bald aus diesem Kerker zu erretten! Nun wußte er fast gar nicht mehr, was er that. S s s
wieder traurig und weinte. Alle Abend legte er der Aebtiſſin am Sprachgitter Rechenſchaft von ſeiner Arbeit ab. Sie ſchien taͤglich mit ihm zu- friedener zu ſeyn. Zuweilen ſah er noch mehrere Nonnen in dem Sprachzimmer. Die heftigſte Unruhe quaͤlte ihn, ob nicht ſeine Mariane mit unter den Nonnen ſey? Aber vor dem Schleyer konnt’ er ſie nicht erkennen. Einmal hub eine von den Nonnen, die in der Ecke des Sprachzimmers ſtand, ihren Schleyer etwas auf. Es war Maria- ne. Jhr Geſicht war todtbleich. Er ward durch den Anblick wie vom Donner geruͤhrt. Bald ward ſein Geſicht feuerroth, bald todtblaß, er ſtotterte, gab der Aebtiſſin lauter verwirrte Ant- worten; ſeine Knie zitterten, daß er kaum mehr ſtehen konnte. Zu allem Gluͤck ließ ihn die Aeb- tiſſin ſogleich von ſich. Er lief auf ſeine Kammer, und fiel halb ohnmaͤchtig aufs Bette. Ein Strom von Thraͤnen ſchaffte ihm endlich Erleichterung. Er warf ſich auf ſeine Knie, und bethete ſo in- bruͤnſtig, als er faſt noch nie in ſeinem Leben ge- bethet hatte, daß ihm Gott beyſtehen wolle, ſei- nen Engel bald aus dieſem Kerker zu erretten! Nun wußte er faſt gar nicht mehr, was er that. S s s
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wieder traurig und weinte. Alle Abend legte er
der Aebtiſſin am Sprachgitter Rechenſchaft von
ſeiner Arbeit ab. Sie ſchien taͤglich mit ihm zu-
friedener zu ſeyn. Zuweilen ſah er noch mehrere
Nonnen in dem Sprachzimmer. Die heftigſte
Unruhe quaͤlte ihn, ob nicht ſeine Mariane mit
unter den Nonnen ſey? Aber vor dem Schleyer
konnt’ er ſie nicht erkennen. Einmal hub eine von
den Nonnen, die in der Ecke des Sprachzimmers
ſtand, ihren Schleyer etwas auf. Es war Maria-
ne. Jhr Geſicht war todtbleich. Er ward durch
den Anblick wie vom Donner geruͤhrt. Bald
ward ſein Geſicht feuerroth, bald todtblaß, er
ſtotterte, gab der Aebtiſſin lauter verwirrte Ant-
worten; ſeine Knie zitterten, daß er kaum mehr
ſtehen konnte. Zu allem Gluͤck ließ ihn die Aeb-
tiſſin ſogleich von ſich. Er lief auf ſeine Kammer,
und fiel halb ohnmaͤchtig aufs Bette. Ein Strom
von Thraͤnen ſchaffte ihm endlich Erleichterung.
Er warf ſich auf ſeine Knie, und bethete ſo in-
bruͤnſtig, als er faſt noch nie in ſeinem Leben ge-
bethet hatte, daß ihm Gott beyſtehen wolle, ſei-
nen Engel bald aus dieſem Kerker zu erretten!
Nun wußte er faſt gar nicht mehr, was er that.
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