Vergib mir alle Kränkungen, die ich ihm vielleicht, wider Willen, anthat! Gott, vergib mir sie, und segn' ihn! -- O mein Freund, du Theurer! War- um must du mich verlassen? Gib mir ihn bald wie- der, Gott! Laß mich ihn bald wieder sehen! -- Endlich warf sich Siegwart, vom Wachen und vom Schmerz ermüdet, in den Kleidern aufs Bette, um noch ein paar Stunden zu schlafen.
Den andern Tag war die ganze Welt ihm öde, und ein unausfüllbares Leere war in seinem Her- zen. Er vermißte seinen Kronhelm immer, und wollte alle Augenblick mit ihm reden. Des Abends vergaß er sich oft selbst, und dachte, so oft er je- mand auf dem Gang vor seinem Zimmer gehen hörte, sein Freund komme nun. Dann sah er sei- nen Jrrthum; es fiel ihm ein, daß er ferne sey, und seine Wehmuth erwachte stärker. Er gieng auf P. Philipps Zimmer, um ihm das letzte Le- bewohl seines Freundes zu sagen; die beyden bra- chen in sein Lob aus, erzählten alles, was an ihm vortreflich war, mit Lebhaftigkeit nach einander her, und bedaurten dann gemeinschaftlich ihren Verlust. Siegwart zeigte dem Pater den Geßner, den ihm sein Freund geschenkt, und was er vorne hinein ge- schtieben hatte. -- Jch bedaure den armen Kron-
Vergib mir alle Kraͤnkungen, die ich ihm vielleicht, wider Willen, anthat! Gott, vergib mir ſie, und ſegn’ ihn! — O mein Freund, du Theurer! War- um muſt du mich verlaſſen? Gib mir ihn bald wie- der, Gott! Laß mich ihn bald wieder ſehen! — Endlich warf ſich Siegwart, vom Wachen und vom Schmerz ermuͤdet, in den Kleidern aufs Bette, um noch ein paar Stunden zu ſchlafen.
Den andern Tag war die ganze Welt ihm oͤde, und ein unausfuͤllbares Leere war in ſeinem Her- zen. Er vermißte ſeinen Kronhelm immer, und wollte alle Augenblick mit ihm reden. Des Abends vergaß er ſich oft ſelbſt, und dachte, ſo oft er je- mand auf dem Gang vor ſeinem Zimmer gehen hoͤrte, ſein Freund komme nun. Dann ſah er ſei- nen Jrrthum; es fiel ihm ein, daß er ferne ſey, und ſeine Wehmuth erwachte ſtaͤrker. Er gieng auf P. Philipps Zimmer, um ihm das letzte Le- bewohl ſeines Freundes zu ſagen; die beyden bra- chen in ſein Lob aus, erzaͤhlten alles, was an ihm vortreflich war, mit Lebhaftigkeit nach einander her, und bedaurten dann gemeinſchaftlich ihren Verluſt. Siegwart zeigte dem Pater den Geßner, den ihm ſein Freund geſchenkt, und was er vorne hinein ge- ſchtieben hatte. — Jch bedaure den armen Kron-
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Vergib mir alle Kraͤnkungen, die ich ihm vielleicht,
wider Willen, anthat! Gott, vergib mir ſie, und
ſegn’ ihn! — O mein Freund, du Theurer! War-
um muſt du mich verlaſſen? Gib mir ihn bald wie-
der, Gott! Laß mich ihn bald wieder ſehen! —
Endlich warf ſich Siegwart, vom Wachen und vom
Schmerz ermuͤdet, in den Kleidern aufs Bette,
um noch ein paar Stunden zu ſchlafen.
Den andern Tag war die ganze Welt ihm oͤde,
und ein unausfuͤllbares Leere war in ſeinem Her-
zen. Er vermißte ſeinen Kronhelm immer, und
wollte alle Augenblick mit ihm reden. Des Abends
vergaß er ſich oft ſelbſt, und dachte, ſo oft er je-
mand auf dem Gang vor ſeinem Zimmer gehen
hoͤrte, ſein Freund komme nun. Dann ſah er ſei-
nen Jrrthum; es fiel ihm ein, daß er ferne ſey,
und ſeine Wehmuth erwachte ſtaͤrker. Er gieng
auf P. Philipps Zimmer, um ihm das letzte Le-
bewohl ſeines Freundes zu ſagen; die beyden bra-
chen in ſein Lob aus, erzaͤhlten alles, was an ihm
vortreflich war, mit Lebhaftigkeit nach einander her,
und bedaurten dann gemeinſchaftlich ihren Verluſt.
Siegwart zeigte dem Pater den Geßner, den ihm
ſein Freund geſchenkt, und was er vorne hinein ge-
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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 481. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/61>, abgerufen am 21.11.2024.
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