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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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glaubte, ihm würde dieses nicht möglich seyn. Lie-
ber Xaver, sagte Anton, ich habs auch nicht
geglaubt, als der Schmerz noch neu in meiner
Seele, und ich noch ein Jüngling war. Jn der
Jugend fühlt man alles noch so stark, und traut
sich auf der einen Seite zu wenig, und auf der an-
dern zu viel zu. Leiden glaubt man nicht tragen
zu können. Jede Leidenschaft, glaubt man, müsse
diesen Körper gleich zertrümmern; aber in der
Jugend kann der Körper weit mehr tragen, als
im Alter. Drum gab Gott, dem das Leben eines
Menschen theuer ist, uns gewöhnlich nur so lang
starke Leidenschaften, als der Körper stark genug
ist, ihre Erschütterungen zu tragen. Mit dem
Wachsthum der Jahre nehmen sie ab, und die
Reizbarkeit der Empfindung auch. Siehst du,
Freund, so wird der Alte ruhig, in dessen Brust es
vorher noch so sehr gestürmt hat. Die Jugend
half ihm die Stürme aushalten, und nach dem
Sturm kommt Ruhe. Also ist sie sehr natürlich,
ob es gleich auch eine künstliche Ruhe giebt, die
von guten Grundsätzen, von Erfahrung, Philoso-
phie, und Anwendung der Religion erzeugt wird.
Der Welt wäre schlecht geholfen wenn Unglück
des Herzens jeden Jüngling sogleich tödtete; denn



glaubte, ihm wuͤrde dieſes nicht moͤglich ſeyn. Lie-
ber Xaver, ſagte Anton, ich habs auch nicht
geglaubt, als der Schmerz noch neu in meiner
Seele, und ich noch ein Juͤngling war. Jn der
Jugend fuͤhlt man alles noch ſo ſtark, und traut
ſich auf der einen Seite zu wenig, und auf der an-
dern zu viel zu. Leiden glaubt man nicht tragen
zu koͤnnen. Jede Leidenſchaft, glaubt man, muͤſſe
dieſen Koͤrper gleich zertruͤmmern; aber in der
Jugend kann der Koͤrper weit mehr tragen, als
im Alter. Drum gab Gott, dem das Leben eines
Menſchen theuer iſt, uns gewoͤhnlich nur ſo lang
ſtarke Leidenſchaften, als der Koͤrper ſtark genug
iſt, ihre Erſchuͤtterungen zu tragen. Mit dem
Wachsthum der Jahre nehmen ſie ab, und die
Reizbarkeit der Empfindung auch. Siehſt du,
Freund, ſo wird der Alte ruhig, in deſſen Bruſt es
vorher noch ſo ſehr geſtuͤrmt hat. Die Jugend
half ihm die Stuͤrme aushalten, und nach dem
Sturm kommt Ruhe. Alſo iſt ſie ſehr natuͤrlich,
ob es gleich auch eine kuͤnſtliche Ruhe giebt, die
von guten Grundſaͤtzen, von Erfahrung, Philoſo-
phie, und Anwendung der Religion erzeugt wird.
Der Welt waͤre ſchlecht geholfen wenn Ungluͤck
des Herzens jeden Juͤngling ſogleich toͤdtete; denn

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[1032/0612] glaubte, ihm wuͤrde dieſes nicht moͤglich ſeyn. Lie- ber Xaver, ſagte Anton, ich habs auch nicht geglaubt, als der Schmerz noch neu in meiner Seele, und ich noch ein Juͤngling war. Jn der Jugend fuͤhlt man alles noch ſo ſtark, und traut ſich auf der einen Seite zu wenig, und auf der an- dern zu viel zu. Leiden glaubt man nicht tragen zu koͤnnen. Jede Leidenſchaft, glaubt man, muͤſſe dieſen Koͤrper gleich zertruͤmmern; aber in der Jugend kann der Koͤrper weit mehr tragen, als im Alter. Drum gab Gott, dem das Leben eines Menſchen theuer iſt, uns gewoͤhnlich nur ſo lang ſtarke Leidenſchaften, als der Koͤrper ſtark genug iſt, ihre Erſchuͤtterungen zu tragen. Mit dem Wachsthum der Jahre nehmen ſie ab, und die Reizbarkeit der Empfindung auch. Siehſt du, Freund, ſo wird der Alte ruhig, in deſſen Bruſt es vorher noch ſo ſehr geſtuͤrmt hat. Die Jugend half ihm die Stuͤrme aushalten, und nach dem Sturm kommt Ruhe. Alſo iſt ſie ſehr natuͤrlich, ob es gleich auch eine kuͤnſtliche Ruhe giebt, die von guten Grundſaͤtzen, von Erfahrung, Philoſo- phie, und Anwendung der Religion erzeugt wird. Der Welt waͤre ſchlecht geholfen wenn Ungluͤck des Herzens jeden Juͤngling ſogleich toͤdtete; denn

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 1032. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/612>, abgerufen am 23.11.2024.