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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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und sein Herz unter den Unheiligen Gott zu wid-
men und zu heiligen.

Den meisten Kummer aber, der am schmerzlich-
sten heimlich an seiner Seele nagte, machte ihm,
daß er, zumal an den trüben, einsamen Winter-
tagen, so unthätig in seiner Zelle sitzen mußte,
ohne in einem nützlichen und vernünftigen Buche
lesen zu dürfen; denn die Bibliothek enthielt fast
gröstentheils Legenden, und er durfte noch dazu nur
die Bücher lesen, die ihm der Novizmeister gab,
und die sehr schlecht gewählt waren. Seine Dich-
ter, und überhaupt kein Buch hatte er mit ins
Kloster bringen dürfen. Jedes Buch, das ins
Kloster kam, wurde erst visitirt, und unter diesen
durste nie kein Dichter, am wenigsten ein prote-
stantischer Schriftsteller seyn. Tausendmal sehnte
er sich nach seinem lieben Klopstock, zu dem er
sonst in Freud und Leid seine Zuflucht genommen
hatte. Auch schmachtete er oft, wenn seine Seele
trüb und wehmüthig war, umsonst nach seiner
treuen Freundin, der Musik, um seinen Schmerz
auf der Violine weinen, oder toben, oder auf der
sanften Flöte schmachten zu lassen. Denn im Klo-
ster durfte man keinen Laut von einem Jnstrument
hören lassen. Seine einzige Beschäftigung war,



und ſein Herz unter den Unheiligen Gott zu wid-
men und zu heiligen.

Den meiſten Kummer aber, der am ſchmerzlich-
ſten heimlich an ſeiner Seele nagte, machte ihm,
daß er, zumal an den truͤben, einſamen Winter-
tagen, ſo unthaͤtig in ſeiner Zelle ſitzen mußte,
ohne in einem nuͤtzlichen und vernuͤnftigen Buche
leſen zu duͤrfen; denn die Bibliothek enthielt faſt
groͤſtentheils Legenden, und er durfte noch dazu nur
die Buͤcher leſen, die ihm der Novizmeiſter gab,
und die ſehr ſchlecht gewaͤhlt waren. Seine Dich-
ter, und uͤberhaupt kein Buch hatte er mit ins
Kloſter bringen duͤrfen. Jedes Buch, das ins
Kloſter kam, wurde erſt viſitirt, und unter dieſen
durſte nie kein Dichter, am wenigſten ein prote-
ſtantiſcher Schriftſteller ſeyn. Tauſendmal ſehnte
er ſich nach ſeinem lieben Klopſtock, zu dem er
ſonſt in Freud und Leid ſeine Zuflucht genommen
hatte. Auch ſchmachtete er oft, wenn ſeine Seele
truͤb und wehmuͤthig war, umſonſt nach ſeiner
treuen Freundin, der Muſik, um ſeinen Schmerz
auf der Violine weinen, oder toben, oder auf der
ſanften Floͤte ſchmachten zu laſſen. Denn im Klo-
ſter durfte man keinen Laut von einem Jnſtrument
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[1040/0620] und ſein Herz unter den Unheiligen Gott zu wid- men und zu heiligen. Den meiſten Kummer aber, der am ſchmerzlich- ſten heimlich an ſeiner Seele nagte, machte ihm, daß er, zumal an den truͤben, einſamen Winter- tagen, ſo unthaͤtig in ſeiner Zelle ſitzen mußte, ohne in einem nuͤtzlichen und vernuͤnftigen Buche leſen zu duͤrfen; denn die Bibliothek enthielt faſt groͤſtentheils Legenden, und er durfte noch dazu nur die Buͤcher leſen, die ihm der Novizmeiſter gab, und die ſehr ſchlecht gewaͤhlt waren. Seine Dich- ter, und uͤberhaupt kein Buch hatte er mit ins Kloſter bringen duͤrfen. Jedes Buch, das ins Kloſter kam, wurde erſt viſitirt, und unter dieſen durſte nie kein Dichter, am wenigſten ein prote- ſtantiſcher Schriftſteller ſeyn. Tauſendmal ſehnte er ſich nach ſeinem lieben Klopſtock, zu dem er ſonſt in Freud und Leid ſeine Zuflucht genommen hatte. Auch ſchmachtete er oft, wenn ſeine Seele truͤb und wehmuͤthig war, umſonſt nach ſeiner treuen Freundin, der Muſik, um ſeinen Schmerz auf der Violine weinen, oder toben, oder auf der ſanften Floͤte ſchmachten zu laſſen. Denn im Klo- ſter durfte man keinen Laut von einem Jnſtrument hoͤren laſſen. Seine einzige Beſchaͤftigung war,

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 1040. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/620>, abgerufen am 24.11.2024.