Erst nach etlich Wochen bekam er seine vorige Ru- he wieder.
Sein Probejahr war schon beynah zu Ende, als der Guardian starb, und das Klosterkonvent fast einmüthig den rechtschaffnen Pater Anton zu sei- nem Vorsteher und Guardian erwählte. Der bra- ve Mann nahm diese Ehre am Ende seiner Tage ungern an. Er hätte lieber seine noch wenigen Tage in der Stille beschlossen, aber das Zureden seiner Mitbrüder überwand endlich seine Beschei- denheit, und er nahm die Würde an, die er aufs treulichste, und ohne sein Betragen oder seine Denkungsart im geringsten zu verändern, verwal- tete.
Siegwart hätte sich nun sehr gut sein Schicksal erleichtern, und sich bey dem Guardian, der sein Freund, und noch mehr, sein zweyter Vater war, über die Strenge und Unbilligkeit seines Noviz- meisters beschweren können; denn dieser stolze und fühllose Mann vermehrte seine Härte, je mehr sich das Probejahr seiner Untergebenen dem Ende nah- te; aber Siegwart sagte kein Wort, und trug sein Schicksal mit Stille und Gelassenheit. Oft fragte ihn P. Anton, ob er mit seinem Zustand zufrieden sey, und sich über nichts zu beklagen habe? und
Erſt nach etlich Wochen bekam er ſeine vorige Ru- he wieder.
Sein Probejahr war ſchon beynah zu Ende, als der Guardian ſtarb, und das Kloſterkonvent faſt einmuͤthig den rechtſchaffnen Pater Anton zu ſei- nem Vorſteher und Guardian erwaͤhlte. Der bra- ve Mann nahm dieſe Ehre am Ende ſeiner Tage ungern an. Er haͤtte lieber ſeine noch wenigen Tage in der Stille beſchloſſen, aber das Zureden ſeiner Mitbruͤder uͤberwand endlich ſeine Beſchei- denheit, und er nahm die Wuͤrde an, die er aufs treulichſte, und ohne ſein Betragen oder ſeine Denkungsart im geringſten zu veraͤndern, verwal- tete.
Siegwart haͤtte ſich nun ſehr gut ſein Schickſal erleichtern, und ſich bey dem Guardian, der ſein Freund, und noch mehr, ſein zweyter Vater war, uͤber die Strenge und Unbilligkeit ſeines Noviz- meiſters beſchweren koͤnnen; denn dieſer ſtolze und fuͤhlloſe Mann vermehrte ſeine Haͤrte, je mehr ſich das Probejahr ſeiner Untergebenen dem Ende nah- te; aber Siegwart ſagte kein Wort, und trug ſein Schickſal mit Stille und Gelaſſenheit. Oft fragte ihn P. Anton, ob er mit ſeinem Zuſtand zufrieden ſey, und ſich uͤber nichts zu beklagen habe? und
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Erſt nach etlich Wochen bekam er ſeine vorige Ru-
he wieder.
Sein Probejahr war ſchon beynah zu Ende, als
der Guardian ſtarb, und das Kloſterkonvent faſt
einmuͤthig den rechtſchaffnen Pater Anton zu ſei-
nem Vorſteher und Guardian erwaͤhlte. Der bra-
ve Mann nahm dieſe Ehre am Ende ſeiner Tage
ungern an. Er haͤtte lieber ſeine noch wenigen
Tage in der Stille beſchloſſen, aber das Zureden
ſeiner Mitbruͤder uͤberwand endlich ſeine Beſchei-
denheit, und er nahm die Wuͤrde an, die er aufs
treulichſte, und ohne ſein Betragen oder ſeine
Denkungsart im geringſten zu veraͤndern, verwal-
tete.
Siegwart haͤtte ſich nun ſehr gut ſein Schickſal
erleichtern, und ſich bey dem Guardian, der ſein
Freund, und noch mehr, ſein zweyter Vater war,
uͤber die Strenge und Unbilligkeit ſeines Noviz-
meiſters beſchweren koͤnnen; denn dieſer ſtolze und
fuͤhlloſe Mann vermehrte ſeine Haͤrte, je mehr ſich
das Probejahr ſeiner Untergebenen dem Ende nah-
te; aber Siegwart ſagte kein Wort, und trug ſein
Schickſal mit Stille und Gelaſſenheit. Oft fragte
ihn P. Anton, ob er mit ſeinem Zuſtand zufrieden
ſey, und ſich uͤber nichts zu beklagen habe? und
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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 1048. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/628>, abgerufen am 24.11.2024.
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