Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.wissen, daß er selbst die Ursache davon sey. Keine Seele wußte sie, als P. Philipp, der aber weiter nichts, als muthmaßte. Das unglückliche Mäd- chen schloß sich und ihren Gram in die Zelle. Jh- re Tage waren zwischen Thränen und Gebeth ge- theilt. Der Tod war ihr einziger Freund, und die Gedanken an ihn waren ihr die süssesten. Sie wurde täglich mit ihm vertrauter, und fühlte seine nahe Ankunft täglich mehr. Jhre Klosterpflichten beobachtete sie genau; man sah sie vor Anbruch des Tages immer zuerst im Chor; oft kniete sie mit blassem, abgehärmtem Gesicht allein am Al- tar; ihre Thränen flossen hinter dem Schleyer an den Fuß des Altars nieder; sie betete laut und brün- stig, und war oft durch glühende Andacht so ermü- det, daß sie kaum allein wieder aufstehen konnte. Beym Essen sprach sie gar nichts, und sah blos ihre Schwestern, eine nach der andern an, und bemerk- te in ihren Gesichtern den verschiednen Ausdruck des mannigfachen Kummers, der in ihren Seelen wohnte. Sie hatte keine ganz vertraute Freundin; nur Cäcilia, ein zwanzigjähriges Mädchen, saß oft bey ihr auf der Zelle, denn sie hatte auch Gram im Herzen, und das Unglück sucht Gesellschaft. Es schien, daß die beyden Seelen einen gemeinschaftli- wiſſen, daß er ſelbſt die Urſache davon ſey. Keine Seele wußte ſie, als P. Philipp, der aber weiter nichts, als muthmaßte. Das ungluͤckliche Maͤd- chen ſchloß ſich und ihren Gram in die Zelle. Jh- re Tage waren zwiſchen Thraͤnen und Gebeth ge- theilt. Der Tod war ihr einziger Freund, und die Gedanken an ihn waren ihr die ſuͤſſeſten. Sie wurde taͤglich mit ihm vertrauter, und fuͤhlte ſeine nahe Ankunft taͤglich mehr. Jhre Kloſterpflichten beobachtete ſie genau; man ſah ſie vor Anbruch des Tages immer zuerſt im Chor; oft kniete ſie mit blaſſem, abgehaͤrmtem Geſicht allein am Al- tar; ihre Thraͤnen floſſen hinter dem Schleyer an den Fuß des Altars nieder; ſie betete laut und bruͤn- ſtig, und war oft durch gluͤhende Andacht ſo ermuͤ- det, daß ſie kaum allein wieder aufſtehen konnte. Beym Eſſen ſprach ſie gar nichts, und ſah blos ihre Schweſtern, eine nach der andern an, und bemerk- te in ihren Geſichtern den verſchiednen Ausdruck des mannigfachen Kummers, der in ihren Seelen wohnte. Sie hatte keine ganz vertraute Freundin; nur Caͤcilia, ein zwanzigjaͤhriges Maͤdchen, ſaß oft bey ihr auf der Zelle, denn ſie hatte auch Gram im Herzen, und das Ungluͤck ſucht Geſellſchaft. Es ſchien, daß die beyden Seelen einen gemeinſchaftli- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0095" n="515"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> wiſſen, daß er ſelbſt die Urſache davon ſey. Keine<lb/> Seele wußte ſie, als P. Philipp, der aber weiter<lb/> nichts, als muthmaßte. Das ungluͤckliche Maͤd-<lb/> chen ſchloß ſich und ihren Gram in die Zelle. Jh-<lb/> re Tage waren zwiſchen Thraͤnen und Gebeth ge-<lb/> theilt. Der Tod war ihr einziger Freund, und die<lb/> Gedanken an ihn waren ihr die ſuͤſſeſten. Sie<lb/> wurde taͤglich mit ihm vertrauter, und fuͤhlte ſeine<lb/> nahe Ankunft taͤglich mehr. Jhre Kloſterpflichten<lb/> beobachtete ſie genau; man ſah ſie vor Anbruch<lb/> des Tages immer zuerſt im Chor; oft kniete ſie<lb/> mit blaſſem, abgehaͤrmtem Geſicht allein am Al-<lb/> tar; ihre Thraͤnen floſſen hinter dem Schleyer an<lb/> den Fuß des Altars nieder; ſie betete laut und bruͤn-<lb/> ſtig, und war oft durch gluͤhende Andacht ſo ermuͤ-<lb/> det, daß ſie kaum allein wieder aufſtehen konnte.<lb/> Beym Eſſen ſprach ſie gar nichts, und ſah blos ihre<lb/> Schweſtern, eine nach der andern an, und bemerk-<lb/> te in ihren Geſichtern den verſchiednen Ausdruck<lb/> des mannigfachen Kummers, der in ihren Seelen<lb/> wohnte. Sie hatte keine ganz vertraute Freundin;<lb/> nur <hi rendition="#fr">Caͤcilia,</hi> ein zwanzigjaͤhriges Maͤdchen, ſaß<lb/> oft bey ihr auf der Zelle, denn ſie hatte auch Gram<lb/> im Herzen, und das Ungluͤck ſucht Geſellſchaft. Es<lb/> ſchien, daß die beyden Seelen einen gemeinſchaftli-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [515/0095]
wiſſen, daß er ſelbſt die Urſache davon ſey. Keine
Seele wußte ſie, als P. Philipp, der aber weiter
nichts, als muthmaßte. Das ungluͤckliche Maͤd-
chen ſchloß ſich und ihren Gram in die Zelle. Jh-
re Tage waren zwiſchen Thraͤnen und Gebeth ge-
theilt. Der Tod war ihr einziger Freund, und die
Gedanken an ihn waren ihr die ſuͤſſeſten. Sie
wurde taͤglich mit ihm vertrauter, und fuͤhlte ſeine
nahe Ankunft taͤglich mehr. Jhre Kloſterpflichten
beobachtete ſie genau; man ſah ſie vor Anbruch
des Tages immer zuerſt im Chor; oft kniete ſie
mit blaſſem, abgehaͤrmtem Geſicht allein am Al-
tar; ihre Thraͤnen floſſen hinter dem Schleyer an
den Fuß des Altars nieder; ſie betete laut und bruͤn-
ſtig, und war oft durch gluͤhende Andacht ſo ermuͤ-
det, daß ſie kaum allein wieder aufſtehen konnte.
Beym Eſſen ſprach ſie gar nichts, und ſah blos ihre
Schweſtern, eine nach der andern an, und bemerk-
te in ihren Geſichtern den verſchiednen Ausdruck
des mannigfachen Kummers, der in ihren Seelen
wohnte. Sie hatte keine ganz vertraute Freundin;
nur Caͤcilia, ein zwanzigjaͤhriges Maͤdchen, ſaß
oft bey ihr auf der Zelle, denn ſie hatte auch Gram
im Herzen, und das Ungluͤck ſucht Geſellſchaft. Es
ſchien, daß die beyden Seelen einen gemeinſchaftli-
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