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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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daß ich glücklich werde! Sie soll sich nicht zu sehr
betrüben! Noch wenig Schritte -- denn was sind
Jahre in diesem Leben anders? -- so werden wir
uns widersehn, und ohne Seufzer, ohne Thränen
wiedersehn. -- Auch du hast grosse Leiden, liebe
Schwester! Trag sie mit Geduld! Jhre Frucht
wird Freude seyn. Folg mir bald nach! -- Cä-
cilia weinte; sie erzählte Sophien auch ihre Ge-
schichte. Sie war traurig; unglückliche Liebe war
ihr Jnhalt. Sophie weinte viel, legte sich auf die
Seite; hüllte ihr Gesicht ins Bett, schlummerte
ein, und wachte den andern Morgen kraftlos auf.
Jhre Stimme war gebrochen; man konnte sie kaum
mehr verstehen. Ein Kapuziner gab ihr die letzte
Oelung. Gegen Abend ward sie noch einmal mun-
ter; betete eine halbe Stunde laut, und mit der
grösten Jnbrunst; dann entgieng ihr die Sprache
wieder; ein paarmal sah sie Cäcilien an, machte
einen Zug mit ihrem Finger auf das Bette, der ein
S, vermuthlich Siegwarts Namen, vorstellte; dann
starb sie.

Cäcilia gab den andern Tag ihrer trostlosen
Mutter das Packet, auf welchem Siegwarts Na-
me stand. Er brach es mit Zittern auf. Es ent-
hielt eine Art von Tagebuch, das an ihn gerichtet



daß ich gluͤcklich werde! Sie ſoll ſich nicht zu ſehr
betruͤben! Noch wenig Schritte — denn was ſind
Jahre in dieſem Leben anders? — ſo werden wir
uns widerſehn, und ohne Seufzer, ohne Thraͤnen
wiederſehn. — Auch du haſt groſſe Leiden, liebe
Schweſter! Trag ſie mit Geduld! Jhre Frucht
wird Freude ſeyn. Folg mir bald nach! — Caͤ-
cilia weinte; ſie erzaͤhlte Sophien auch ihre Ge-
ſchichte. Sie war traurig; ungluͤckliche Liebe war
ihr Jnhalt. Sophie weinte viel, legte ſich auf die
Seite; huͤllte ihr Geſicht ins Bett, ſchlummerte
ein, und wachte den andern Morgen kraftlos auf.
Jhre Stimme war gebrochen; man konnte ſie kaum
mehr verſtehen. Ein Kapuziner gab ihr die letzte
Oelung. Gegen Abend ward ſie noch einmal mun-
ter; betete eine halbe Stunde laut, und mit der
groͤſten Jnbrunſt; dann entgieng ihr die Sprache
wieder; ein paarmal ſah ſie Caͤcilien an, machte
einen Zug mit ihrem Finger auf das Bette, der ein
S, vermuthlich Siegwarts Namen, vorſtellte; dann
ſtarb ſie.

Caͤcilia gab den andern Tag ihrer troſtloſen
Mutter das Packet, auf welchem Siegwarts Na-
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hielt eine Art von Tagebuch, das an ihn gerichtet

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[518/0098] daß ich gluͤcklich werde! Sie ſoll ſich nicht zu ſehr betruͤben! Noch wenig Schritte — denn was ſind Jahre in dieſem Leben anders? — ſo werden wir uns widerſehn, und ohne Seufzer, ohne Thraͤnen wiederſehn. — Auch du haſt groſſe Leiden, liebe Schweſter! Trag ſie mit Geduld! Jhre Frucht wird Freude ſeyn. Folg mir bald nach! — Caͤ- cilia weinte; ſie erzaͤhlte Sophien auch ihre Ge- ſchichte. Sie war traurig; ungluͤckliche Liebe war ihr Jnhalt. Sophie weinte viel, legte ſich auf die Seite; huͤllte ihr Geſicht ins Bett, ſchlummerte ein, und wachte den andern Morgen kraftlos auf. Jhre Stimme war gebrochen; man konnte ſie kaum mehr verſtehen. Ein Kapuziner gab ihr die letzte Oelung. Gegen Abend ward ſie noch einmal mun- ter; betete eine halbe Stunde laut, und mit der groͤſten Jnbrunſt; dann entgieng ihr die Sprache wieder; ein paarmal ſah ſie Caͤcilien an, machte einen Zug mit ihrem Finger auf das Bette, der ein S, vermuthlich Siegwarts Namen, vorſtellte; dann ſtarb ſie. Caͤcilia gab den andern Tag ihrer troſtloſen Mutter das Packet, auf welchem Siegwarts Na- me ſtand. Er brach es mit Zittern auf. Es ent- hielt eine Art von Tagebuch, das an ihn gerichtet

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 518. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/98>, abgerufen am 21.11.2024.