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Milton, John: Das Verlohrne Paradies. Bd. 2. Übers. v. Justus Friedrich Wilhelm Zachariae Altona, 1763.

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Neunter Gesang.

Oder Betrug. Was fürcht' ich demnach? Was hab ich zu fürchten?
800Jch, so unwissend im Bösen und Guten, in allem, was Tod heißt,

Oder Gott; in Straf, und Gesetz? hier wächset das Mittel,
Welches mich heilt, die göttliche Frucht! so schön für die Augen,
So einladend für unsern Geschmack; begabt mit der Tugend,
Weise zu machen. Was hindert mich denn, sie muthig zu pflücken,
805Und durch sie mit dem Leibe zugleich die Seele zu speisen.

Also sprach sie; und streckt zu einer unglücklichen Stunde
Nur zu eilig die Hand nach der Frucht; getäuscht vom Verführer,
Pflückt sie verwegen, und ißt. Die Erde fühlte die Wunde;
Jnnerlich seufzt die Natur, und alle Werke der Schöpfung
810Gaben traurige Zeichen, daß alles verlohren gegangen.

Zu dem dicken Gebüsch schlich nun die schuldige Schlange
Wieder zurück: sie konnt' es sehr leicht; denn Eva war völlig
Jn dem neuen Geschmacke vertieft, und achtete nichts sonst.
Niemals hatte sie, wie sie es dünkte, von anderen Früchten
815Solches Vergnügen gefühlt; entweder fühlte sie's wirklich,

Oder sie stellte sichs vor, ganz voll von der hohen Erwartung
Jhrer Erkenntniß, und voll vom Gedanken der nahen Vergöttrung.
Gierig verschlang sie die Frucht, und wußte nicht in dem Genusse,
Daß sie den Tod aß; endlich ward sie vollkommen gesättigt,
820Und als wie von Weine berauscht. Ganz heiter und fröhlich

Sprach sie also bey sich, mit ihrem Glücke zufrieden.
O du
N 3

Neunter Geſang.

Oder Betrug. Was fuͤrcht’ ich demnach? Was hab ich zu fuͤrchten?
800Jch, ſo unwiſſend im Boͤſen und Guten, in allem, was Tod heißt,

Oder Gott; in Straf, und Geſetz? hier waͤchſet das Mittel,
Welches mich heilt, die goͤttliche Frucht! ſo ſchoͤn fuͤr die Augen,
So einladend fuͤr unſern Geſchmack; begabt mit der Tugend,
Weiſe zu machen. Was hindert mich denn, ſie muthig zu pfluͤcken,
805Und durch ſie mit dem Leibe zugleich die Seele zu ſpeiſen.

Alſo ſprach ſie; und ſtreckt zu einer ungluͤcklichen Stunde
Nur zu eilig die Hand nach der Frucht; getaͤuſcht vom Verfuͤhrer,
Pfluͤckt ſie verwegen, und ißt. Die Erde fuͤhlte die Wunde;
Jnnerlich ſeufzt die Natur, und alle Werke der Schoͤpfung
810Gaben traurige Zeichen, daß alles verlohren gegangen.

Zu dem dicken Gebuͤſch ſchlich nun die ſchuldige Schlange
Wieder zuruͤck: ſie konnt’ es ſehr leicht; denn Eva war voͤllig
Jn dem neuen Geſchmacke vertieft, und achtete nichts ſonſt.
Niemals hatte ſie, wie ſie es duͤnkte, von anderen Fruͤchten
815Solches Vergnuͤgen gefuͤhlt; entweder fuͤhlte ſie’s wirklich,

Oder ſie ſtellte ſichs vor, ganz voll von der hohen Erwartung
Jhrer Erkenntniß, und voll vom Gedanken der nahen Vergoͤttrung.
Gierig verſchlang ſie die Frucht, und wußte nicht in dem Genuſſe,
Daß ſie den Tod aß; endlich ward ſie vollkommen geſaͤttigt,
820Und als wie von Weine berauſcht. Ganz heiter und froͤhlich

Sprach ſie alſo bey ſich, mit ihrem Gluͤcke zufrieden.
O du
N 3
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[101/0121] Neunter Geſang. Oder Betrug. Was fuͤrcht’ ich demnach? Was hab ich zu fuͤrchten? Jch, ſo unwiſſend im Boͤſen und Guten, in allem, was Tod heißt, Oder Gott; in Straf, und Geſetz? hier waͤchſet das Mittel, Welches mich heilt, die goͤttliche Frucht! ſo ſchoͤn fuͤr die Augen, So einladend fuͤr unſern Geſchmack; begabt mit der Tugend, Weiſe zu machen. Was hindert mich denn, ſie muthig zu pfluͤcken, Und durch ſie mit dem Leibe zugleich die Seele zu ſpeiſen. Alſo ſprach ſie; und ſtreckt zu einer ungluͤcklichen Stunde Nur zu eilig die Hand nach der Frucht; getaͤuſcht vom Verfuͤhrer, Pfluͤckt ſie verwegen, und ißt. Die Erde fuͤhlte die Wunde; Jnnerlich ſeufzt die Natur, und alle Werke der Schoͤpfung Gaben traurige Zeichen, daß alles verlohren gegangen. Zu dem dicken Gebuͤſch ſchlich nun die ſchuldige Schlange Wieder zuruͤck: ſie konnt’ es ſehr leicht; denn Eva war voͤllig Jn dem neuen Geſchmacke vertieft, und achtete nichts ſonſt. Niemals hatte ſie, wie ſie es duͤnkte, von anderen Fruͤchten Solches Vergnuͤgen gefuͤhlt; entweder fuͤhlte ſie’s wirklich, Oder ſie ſtellte ſichs vor, ganz voll von der hohen Erwartung Jhrer Erkenntniß, und voll vom Gedanken der nahen Vergoͤttrung. Gierig verſchlang ſie die Frucht, und wußte nicht in dem Genuſſe, Daß ſie den Tod aß; endlich ward ſie vollkommen geſaͤttigt, Und als wie von Weine berauſcht. Ganz heiter und froͤhlich Sprach ſie alſo bey ſich, mit ihrem Gluͤcke zufrieden. O du N 3

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Zitationshilfe: Milton, John: Das Verlohrne Paradies. Bd. 2. Übers. v. Justus Friedrich Wilhelm Zachariae Altona, 1763, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/milton_paradies02_1763/121>, abgerufen am 26.11.2024.