Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Milton, John: Das Verlohrne Paradies. Bd. 2. Übers. v. Justus Friedrich Wilhelm Zachariae Altona, 1763.

Bild:
<< vorherige Seite

Das verlohrne Paradies.
815Mit dem Gedanken, daß sie einst kommen sollen. O suche
Niemand vorher zu erfahren, was ihm und seinem Geschlechte
Noch bevorsteht; der wird sonft nichts, als Unglück, erfahren,
Das er, indem er vorher es weiß, dadurch nicht verhindert,
Sondern nur fühlt, daß künftiges Uebel durch Angst und Erwartung
820Eben so schwer ist zu tragen, als wenn es nun wirklich erscheinet.

Diese Sorg' ist indessen umsonst! Kein Mensch ist mehr übrig,
Welcher zu warnen stünde; die wenigen, die noch entflohn sind,
Wird zuletzt Verzweiflung und Angst und Hunger verzehren,
Da sie die Wasserwüste durchirren! Jch hatte gehoffet,
825Daß, wenn nur erst Krieg und Gewalt die Erde verlassen,

Alles gut sey! dann würde der Friede das Menschengeschlechte
Wieder mit langen Freuden und glücklichen Tagen bekrönen.
Aber wie sehr betrog ich mich nicht! nachdem ich gesehen,
Daß der ruhige Friede nicht weniger Seelen verwüstet,
830Als der tödtliche Krieg. Wie kömmt dieß, himmlischer Führer?

Sprich, soll hier das Menschengeschlechte sein Ende nehmen?

Michael sagte darauf: Die Männer, welche du kürzlich
Noch in Freuden, Triumph, und Wollust und Reichthum erblicktest,
Sind die, welche du anfangs sahst; die tapferen Helden,
835Von erhabenen Muth, und groß von kriegrischen Thaten,

Aber von wahrer Tugend entblößt. Nachdem sie gewaltsam
Ströme von Blute vergossen; viel reiche Länder verwüstet,
Und viel Völker besiegt, und einen gewaltigen Namen,
Hohe

Das verlohrne Paradies.
815Mit dem Gedanken, daß ſie einſt kommen ſollen. O ſuche
Niemand vorher zu erfahren, was ihm und ſeinem Geſchlechte
Noch bevorſteht; der wird ſonft nichts, als Ungluͤck, erfahren,
Das er, indem er vorher es weiß, dadurch nicht verhindert,
Sondern nur fuͤhlt, daß kuͤnftiges Uebel durch Angſt und Erwartung
820Eben ſo ſchwer iſt zu tragen, als wenn es nun wirklich erſcheinet.

Dieſe Sorg’ iſt indeſſen umſonſt! Kein Menſch iſt mehr uͤbrig,
Welcher zu warnen ſtuͤnde; die wenigen, die noch entflohn ſind,
Wird zuletzt Verzweiflung und Angſt und Hunger verzehren,
Da ſie die Waſſerwuͤſte durchirren! Jch hatte gehoffet,
825Daß, wenn nur erſt Krieg und Gewalt die Erde verlaſſen,

Alles gut ſey! dann wuͤrde der Friede das Menſchengeſchlechte
Wieder mit langen Freuden und gluͤcklichen Tagen bekroͤnen.
Aber wie ſehr betrog ich mich nicht! nachdem ich geſehen,
Daß der ruhige Friede nicht weniger Seelen verwuͤſtet,
830Als der toͤdtliche Krieg. Wie koͤmmt dieß, himmliſcher Fuͤhrer?

Sprich, ſoll hier das Menſchengeſchlechte ſein Ende nehmen?

Michael ſagte darauf: Die Maͤnner, welche du kuͤrzlich
Noch in Freuden, Triumph, und Wolluſt und Reichthum erblickteſt,
Sind die, welche du anfangs ſahſt; die tapferen Helden,
835Von erhabenen Muth, und groß von kriegriſchen Thaten,

Aber von wahrer Tugend entbloͤßt. Nachdem ſie gewaltſam
Stroͤme von Blute vergoſſen; viel reiche Laͤnder verwuͤſtet,
Und viel Voͤlker beſiegt, und einen gewaltigen Namen,
Hohe
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <lg type="poem">
          <lg n="44">
            <l><pb facs="#f0234" n="210"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Das verlohrne Paradies.</hi></fw><lb/><note place="left">815</note>Mit dem Gedanken, daß &#x017F;ie ein&#x017F;t kommen &#x017F;ollen. O &#x017F;uche</l><lb/>
            <l>Niemand vorher zu erfahren, was ihm und &#x017F;einem Ge&#x017F;chlechte</l><lb/>
            <l>Noch bevor&#x017F;teht; der wird &#x017F;onft nichts, als Unglu&#x0364;ck, erfahren,</l><lb/>
            <l>Das er, indem er vorher es weiß, dadurch nicht verhindert,</l><lb/>
            <l>Sondern nur fu&#x0364;hlt, daß ku&#x0364;nftiges Uebel durch Ang&#x017F;t und Erwartung<lb/><note place="left">820</note>Eben &#x017F;o &#x017F;chwer i&#x017F;t zu tragen, als wenn es nun wirklich er&#x017F;cheinet.</l><lb/>
            <l>Die&#x017F;e Sorg&#x2019; i&#x017F;t inde&#x017F;&#x017F;en um&#x017F;on&#x017F;t! Kein Men&#x017F;ch i&#x017F;t mehr u&#x0364;brig,</l><lb/>
            <l>Welcher zu warnen &#x017F;tu&#x0364;nde; die wenigen, die noch entflohn &#x017F;ind,</l><lb/>
            <l>Wird zuletzt Verzweiflung und Ang&#x017F;t und Hunger verzehren,</l><lb/>
            <l>Da &#x017F;ie die Wa&#x017F;&#x017F;erwu&#x0364;&#x017F;te durchirren! Jch hatte gehoffet,<lb/><note place="left">825</note>Daß, wenn nur er&#x017F;t Krieg und Gewalt die Erde verla&#x017F;&#x017F;en,</l><lb/>
            <l>Alles gut &#x017F;ey! dann wu&#x0364;rde der Friede das Men&#x017F;chenge&#x017F;chlechte</l><lb/>
            <l>Wieder mit langen Freuden und glu&#x0364;cklichen Tagen bekro&#x0364;nen.</l><lb/>
            <l>Aber wie &#x017F;ehr betrog ich mich nicht! nachdem ich ge&#x017F;ehen,</l><lb/>
            <l>Daß der ruhige Friede nicht weniger Seelen verwu&#x0364;&#x017F;tet,<lb/><note place="left">830</note>Als der to&#x0364;dtliche Krieg. Wie ko&#x0364;mmt dieß, himmli&#x017F;cher Fu&#x0364;hrer?</l><lb/>
            <l>Sprich, &#x017F;oll hier das Men&#x017F;chenge&#x017F;chlechte &#x017F;ein Ende nehmen?</l>
          </lg><lb/>
          <lg n="45">
            <l><hi rendition="#fr">Michael</hi> &#x017F;agte darauf: Die Ma&#x0364;nner, welche du ku&#x0364;rzlich</l><lb/>
            <l>Noch in Freuden, Triumph, und Wollu&#x017F;t und Reichthum erblickte&#x017F;t,</l><lb/>
            <l>Sind die, welche du anfangs &#x017F;ah&#x017F;t; die tapferen Helden,<lb/><note place="left">835</note>Von erhabenen Muth, und groß von kriegri&#x017F;chen Thaten,</l><lb/>
            <l>Aber von wahrer Tugend entblo&#x0364;ßt. Nachdem &#x017F;ie gewalt&#x017F;am</l><lb/>
            <l>Stro&#x0364;me von Blute vergo&#x017F;&#x017F;en; viel reiche La&#x0364;nder verwu&#x0364;&#x017F;tet,</l><lb/>
            <l>Und viel Vo&#x0364;lker be&#x017F;iegt, und einen gewaltigen Namen,<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Hohe</fw><lb/></l>
          </lg>
        </lg>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[210/0234] Das verlohrne Paradies. Mit dem Gedanken, daß ſie einſt kommen ſollen. O ſuche Niemand vorher zu erfahren, was ihm und ſeinem Geſchlechte Noch bevorſteht; der wird ſonft nichts, als Ungluͤck, erfahren, Das er, indem er vorher es weiß, dadurch nicht verhindert, Sondern nur fuͤhlt, daß kuͤnftiges Uebel durch Angſt und Erwartung Eben ſo ſchwer iſt zu tragen, als wenn es nun wirklich erſcheinet. Dieſe Sorg’ iſt indeſſen umſonſt! Kein Menſch iſt mehr uͤbrig, Welcher zu warnen ſtuͤnde; die wenigen, die noch entflohn ſind, Wird zuletzt Verzweiflung und Angſt und Hunger verzehren, Da ſie die Waſſerwuͤſte durchirren! Jch hatte gehoffet, Daß, wenn nur erſt Krieg und Gewalt die Erde verlaſſen, Alles gut ſey! dann wuͤrde der Friede das Menſchengeſchlechte Wieder mit langen Freuden und gluͤcklichen Tagen bekroͤnen. Aber wie ſehr betrog ich mich nicht! nachdem ich geſehen, Daß der ruhige Friede nicht weniger Seelen verwuͤſtet, Als der toͤdtliche Krieg. Wie koͤmmt dieß, himmliſcher Fuͤhrer? Sprich, ſoll hier das Menſchengeſchlechte ſein Ende nehmen? Michael ſagte darauf: Die Maͤnner, welche du kuͤrzlich Noch in Freuden, Triumph, und Wolluſt und Reichthum erblickteſt, Sind die, welche du anfangs ſahſt; die tapferen Helden, Von erhabenen Muth, und groß von kriegriſchen Thaten, Aber von wahrer Tugend entbloͤßt. Nachdem ſie gewaltſam Stroͤme von Blute vergoſſen; viel reiche Laͤnder verwuͤſtet, Und viel Voͤlker beſiegt, und einen gewaltigen Namen, Hohe

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/milton_paradies02_1763
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/milton_paradies02_1763/234
Zitationshilfe: Milton, John: Das Verlohrne Paradies. Bd. 2. Übers. v. Justus Friedrich Wilhelm Zachariae Altona, 1763, S. 210. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/milton_paradies02_1763/234>, abgerufen am 16.05.2024.