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Mörike, Eduard: Gedichte. Stuttgart, 1838.

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Im Taumelsinn, in seliger Hast,
Hat sie den güldnen Kiel gefaßt:
Er lebt und schreibt, kaum hält sie ihn,
So rasch geht's über's Täflein hin,
Mit goldiger Hebräer-Schrift
(Wohl feiner, denn mit Schiefer-Stift!):
"Schön Rahel! Friede sey mit dir!
Der ewig' Vater grüßt dich hier,
Will lösen deiner Zunge Band,
Aufthun dein Ohr mit seiner Hand,
So du mit Vater und Mutter dein
Dem Heiland willt zu eigen seyn."
Die Feder ruht; das Schwälblein keck
Fliegt ab dem Baum und nimmt sie weg,
Und auf und fort in einem Nu,
Dem Michelsberg da wieder zu.
Indessen war der Knab erwacht,
Nahm auch das Wunder wohl in Acht.
Die Jungfrau winket ihm aufzustehn,
Alle Beide stumm nach Hause gehn.
Wie sie noch wenig Schritt vom Hofe,
Entgegen rennet schon die Zofe,
Bedeutend, daß der Vater kommen.
Von tausend Freuden übernommen
Es eilet das glückselig Kind
Ins Haus noch zehnmal so geschwind.
Herr Aaron stund just in der Thür,
Faßt sie in Arm, sie zittert schier,
Im Taumelſinn, in ſeliger Haſt,
Hat ſie den guͤldnen Kiel gefaßt:
Er lebt und ſchreibt, kaum haͤlt ſie ihn,
So raſch geht's uͤber's Taͤflein hin,
Mit goldiger Hebraͤer-Schrift
(Wohl feiner, denn mit Schiefer-Stift!):
„Schoͤn Rahel! Friede ſey mit dir!
Der ewig' Vater gruͤßt dich hier,
Will loͤſen deiner Zunge Band,
Aufthun dein Ohr mit ſeiner Hand,
So du mit Vater und Mutter dein
Dem Heiland willt zu eigen ſeyn.“
Die Feder ruht; das Schwaͤlblein keck
Fliegt ab dem Baum und nimmt ſie weg,
Und auf und fort in einem Nu,
Dem Michelsberg da wieder zu.
Indeſſen war der Knab erwacht,
Nahm auch das Wunder wohl in Acht.
Die Jungfrau winket ihm aufzuſtehn,
Alle Beide ſtumm nach Hauſe gehn.
Wie ſie noch wenig Schritt vom Hofe,
Entgegen rennet ſchon die Zofe,
Bedeutend, daß der Vater kommen.
Von tauſend Freuden uͤbernommen
Es eilet das gluͤckſelig Kind
Ins Haus noch zehnmal ſo geſchwind.
Herr Aaron ſtund juſt in der Thuͤr,
Faßt ſie in Arm, ſie zittert ſchier,
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[93/0109] Im Taumelſinn, in ſeliger Haſt, Hat ſie den guͤldnen Kiel gefaßt: Er lebt und ſchreibt, kaum haͤlt ſie ihn, So raſch geht's uͤber's Taͤflein hin, Mit goldiger Hebraͤer-Schrift (Wohl feiner, denn mit Schiefer-Stift!): „Schoͤn Rahel! Friede ſey mit dir! Der ewig' Vater gruͤßt dich hier, Will loͤſen deiner Zunge Band, Aufthun dein Ohr mit ſeiner Hand, So du mit Vater und Mutter dein Dem Heiland willt zu eigen ſeyn.“ Die Feder ruht; das Schwaͤlblein keck Fliegt ab dem Baum und nimmt ſie weg, Und auf und fort in einem Nu, Dem Michelsberg da wieder zu. Indeſſen war der Knab erwacht, Nahm auch das Wunder wohl in Acht. Die Jungfrau winket ihm aufzuſtehn, Alle Beide ſtumm nach Hauſe gehn. Wie ſie noch wenig Schritt vom Hofe, Entgegen rennet ſchon die Zofe, Bedeutend, daß der Vater kommen. Von tauſend Freuden uͤbernommen Es eilet das gluͤckſelig Kind Ins Haus noch zehnmal ſo geſchwind. Herr Aaron ſtund juſt in der Thuͤr, Faßt ſie in Arm, ſie zittert ſchier,

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Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Gedichte. Stuttgart, 1838, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_gedichte_1838/109>, abgerufen am 28.11.2024.