Mörike, Eduard: Gedichte. Stuttgart, 1838.An Clara. Höre das lieblichste Wunder, das ich fürwahr nicht er¬ dichte, Auch erdichtet wär' es wohl schön, doch sah ich's mit Augen. Unter dem blühenden Apfelbaum saß ich auf dem be¬ moosten Mäuerchen, still in Gedanken vertieft; es ruhte das neue Testament mir halbgeöffnet zwischen den Fingern, Klein und zierlich gebunden: (es kam vom treuesten Herzen -- Ach, du ruhest nun auch, mir unvergessen, im Grabe!) Lange saß ich und blickte nicht auf; mit Einem so läßt sich Mir ein Schmetterling nieder auf's Buch, er hebet und senket Dunkle Flügel mit schillerndem Blau, er dreht sich und wandelt Hin und her auf dem Rande. Was suchst du, reizender Sylphe? Lockte die blaue Decke dich an, der glänzende Goldschnitt? Sahst du, getäuscht, im Büchlein die herrlichste Wunder¬ blume? Oder zogen geheim dich himmlische Kräfte hernieder Des lebendigen Worts? Ich muß es glauben, denn immer Weilest du noch, wie gebannt und scheinst wie trunken, ich staune! An Clara. Hoͤre das lieblichſte Wunder, das ich fuͤrwahr nicht er¬ dichte, Auch erdichtet waͤr' es wohl ſchoͤn, doch ſah ich's mit Augen. Unter dem bluͤhenden Apfelbaum ſaß ich auf dem be¬ mooſten Maͤuerchen, ſtill in Gedanken vertieft; es ruhte das neue Teſtament mir halbgeoͤffnet zwiſchen den Fingern, Klein und zierlich gebunden: (es kam vom treueſten Herzen — Ach, du ruheſt nun auch, mir unvergeſſen, im Grabe!) Lange ſaß ich und blickte nicht auf; mit Einem ſo laͤßt ſich Mir ein Schmetterling nieder auf's Buch, er hebet und ſenket Dunkle Fluͤgel mit ſchillerndem Blau, er dreht ſich und wandelt Hin und her auf dem Rande. Was ſuchſt du, reizender Sylphe? Lockte die blaue Decke dich an, der glaͤnzende Goldſchnitt? Sahſt du, getaͤuſcht, im Buͤchlein die herrlichſte Wunder¬ blume? Oder zogen geheim dich himmliſche Kraͤfte hernieder Des lebendigen Worts? Ich muß es glauben, denn immer Weileſt du noch, wie gebannt und ſcheinſt wie trunken, ich ſtaune! <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0126" n="110"/> </div> <div n="1"> <head> <hi rendition="#b #g">An Clara.</hi><lb/> </head> <lg type="poem"> <l>Hoͤre das lieblichſte Wunder, das ich fuͤrwahr nicht er¬<lb/><hi rendition="#et">dichte,</hi></l><lb/> <l>Auch erdichtet waͤr' es wohl ſchoͤn, doch ſah ich's mit<lb/><hi rendition="#et">Augen.</hi></l><lb/> <l>Unter dem bluͤhenden Apfelbaum ſaß ich auf dem be¬<lb/><hi rendition="#et">mooſten</hi></l><lb/> <l>Maͤuerchen, ſtill in Gedanken vertieft; es ruhte das neue</l><lb/> <l>Teſtament mir halbgeoͤffnet zwiſchen den Fingern,</l><lb/> <l>Klein und zierlich gebunden: (es kam vom treueſten<lb/><hi rendition="#et">Herzen —</hi></l><lb/> <l>Ach, du ruheſt nun auch, mir unvergeſſen, im Grabe!)</l><lb/> <l>Lange ſaß ich und blickte nicht auf; mit Einem ſo laͤßt ſich</l><lb/> <l>Mir ein Schmetterling nieder auf's Buch, er hebet und<lb/><hi rendition="#et">ſenket</hi></l><lb/> <l>Dunkle Fluͤgel mit ſchillerndem Blau, er dreht ſich und<lb/><hi rendition="#et">wandelt</hi></l><lb/> <l>Hin und her auf dem Rande. Was ſuchſt du, reizender<lb/><hi rendition="#et">Sylphe?</hi></l><lb/> <l>Lockte die blaue Decke dich an, der glaͤnzende Goldſchnitt?</l><lb/> <l>Sahſt du, getaͤuſcht, im Buͤchlein die herrlichſte Wunder¬<lb/><hi rendition="#et">blume?</hi></l><lb/> <l>Oder zogen geheim dich himmliſche Kraͤfte hernieder</l><lb/> <l>Des lebendigen Worts? Ich muß es glauben, denn<lb/><hi rendition="#et">immer</hi></l><lb/> <l>Weileſt du noch, wie gebannt und ſcheinſt wie trunken,<lb/><hi rendition="#et">ich ſtaune!</hi></l><lb/> </lg> </div> </body> </text> </TEI> [110/0126]
An Clara.
Hoͤre das lieblichſte Wunder, das ich fuͤrwahr nicht er¬
dichte,
Auch erdichtet waͤr' es wohl ſchoͤn, doch ſah ich's mit
Augen.
Unter dem bluͤhenden Apfelbaum ſaß ich auf dem be¬
mooſten
Maͤuerchen, ſtill in Gedanken vertieft; es ruhte das neue
Teſtament mir halbgeoͤffnet zwiſchen den Fingern,
Klein und zierlich gebunden: (es kam vom treueſten
Herzen —
Ach, du ruheſt nun auch, mir unvergeſſen, im Grabe!)
Lange ſaß ich und blickte nicht auf; mit Einem ſo laͤßt ſich
Mir ein Schmetterling nieder auf's Buch, er hebet und
ſenket
Dunkle Fluͤgel mit ſchillerndem Blau, er dreht ſich und
wandelt
Hin und her auf dem Rande. Was ſuchſt du, reizender
Sylphe?
Lockte die blaue Decke dich an, der glaͤnzende Goldſchnitt?
Sahſt du, getaͤuſcht, im Buͤchlein die herrlichſte Wunder¬
blume?
Oder zogen geheim dich himmliſche Kraͤfte hernieder
Des lebendigen Worts? Ich muß es glauben, denn
immer
Weileſt du noch, wie gebannt und ſcheinſt wie trunken,
ich ſtaune!
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |