Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832.

Bild:
<< vorherige Seite

heutigen Tag, seinen Besorgnissen und Hoffnungen
stille nachzuhängen, indeß der Mond mit immer hel-
lerem Lichte die dämmernde Schneelandschaft überschien.
Was hatte sich doch verändert in den wenigen Stun-
den, seit er diese Wege hergeritten! um wie viel
näher war er gegen alles Denken und Vermuthen
seinem ersehntesten Ziele gekommen, ja, das er wirk-
lich schon erreicht, das er schon mit kühnen Armen
umschlungen und auf alle Zukunft für sich geweiht
hatte! Je verwunderter er diese rasche Wendung bei
sich überlegte, desto stärker drang sich ihm der alte
Glaube auf, daß es Augenblicke gebe, wo ein innerer
Gott den Menschen unwiderstehlich besinnungslos vor-
wärts stoße, einer großen Entscheidung entgegen, so
daß er, daß sein Schicksal und sein Glück sich selber
gleichsam übertreffen müssen. Er schauderte im In-
nersten, er drang mit weit offenem Aug' in das tiefe
Blau des nächtlichen Himmels und forderte die Ge-
stirne heraus, seine Seligkeit mitzuempfinden. Was
doch jezt in Constanzen vorgehen mag! -- er
hätte die Welt verschenken mögen, um dieses Einzige
zu wissen, und doch pries er wieder seine Ungewißheit,
weil sie ihm vergönnte, Alles zu glauben, was er
wünschte. Sollte jezt nicht auch in ihrem Busen der
wonnevollste Tumult von Freude, Furcht und Hoffnung
laut seyn? und ist nicht der Grund ihrer Seele, wie
die Tiefe eines stillen Meeres, jezt von jener unend-
lichen Ruhe beherrscht, welche im Bewußtseyn hoher

heutigen Tag, ſeinen Beſorgniſſen und Hoffnungen
ſtille nachzuhängen, indeß der Mond mit immer hel-
lerem Lichte die dämmernde Schneelandſchaft überſchien.
Was hatte ſich doch verändert in den wenigen Stun-
den, ſeit er dieſe Wege hergeritten! um wie viel
näher war er gegen alles Denken und Vermuthen
ſeinem erſehnteſten Ziele gekommen, ja, das er wirk-
lich ſchon erreicht, das er ſchon mit kühnen Armen
umſchlungen und auf alle Zukunft für ſich geweiht
hatte! Je verwunderter er dieſe raſche Wendung bei
ſich überlegte, deſto ſtärker drang ſich ihm der alte
Glaube auf, daß es Augenblicke gebe, wo ein innerer
Gott den Menſchen unwiderſtehlich beſinnungslos vor-
wärts ſtoße, einer großen Entſcheidung entgegen, ſo
daß er, daß ſein Schickſal und ſein Glück ſich ſelber
gleichſam übertreffen müſſen. Er ſchauderte im In-
nerſten, er drang mit weit offenem Aug’ in das tiefe
Blau des nächtlichen Himmels und forderte die Ge-
ſtirne heraus, ſeine Seligkeit mitzuempfinden. Was
doch jezt in Conſtanzen vorgehen mag! — er
hätte die Welt verſchenken mögen, um dieſes Einzige
zu wiſſen, und doch pries er wieder ſeine Ungewißheit,
weil ſie ihm vergönnte, Alles zu glauben, was er
wünſchte. Sollte jezt nicht auch in ihrem Buſen der
wonnevollſte Tumult von Freude, Furcht und Hoffnung
laut ſeyn? und iſt nicht der Grund ihrer Seele, wie
die Tiefe eines ſtillen Meeres, jezt von jener unend-
lichen Ruhe beherrſcht, welche im Bewußtſeyn hoher

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0141" n="133"/>
heutigen Tag, &#x017F;einen Be&#x017F;orgni&#x017F;&#x017F;en und Hoffnungen<lb/>
&#x017F;tille nachzuhängen, indeß der Mond mit immer hel-<lb/>
lerem Lichte die dämmernde Schneeland&#x017F;chaft über&#x017F;chien.<lb/>
Was hatte &#x017F;ich doch verändert in den wenigen Stun-<lb/>
den, &#x017F;eit er die&#x017F;e Wege hergeritten! um wie viel<lb/>
näher war er gegen alles Denken und Vermuthen<lb/>
&#x017F;einem er&#x017F;ehnte&#x017F;ten Ziele gekommen, ja, das er wirk-<lb/>
lich &#x017F;chon erreicht, das er &#x017F;chon mit kühnen Armen<lb/>
um&#x017F;chlungen und auf alle Zukunft für &#x017F;ich geweiht<lb/>
hatte! Je verwunderter er die&#x017F;e ra&#x017F;che Wendung bei<lb/>
&#x017F;ich überlegte, de&#x017F;to &#x017F;tärker drang &#x017F;ich ihm der alte<lb/>
Glaube auf, daß es Augenblicke gebe, wo ein innerer<lb/>
Gott den Men&#x017F;chen unwider&#x017F;tehlich be&#x017F;innungslos vor-<lb/>
wärts &#x017F;toße, einer großen Ent&#x017F;cheidung entgegen, &#x017F;o<lb/>
daß er, daß &#x017F;ein Schick&#x017F;al und &#x017F;ein Glück &#x017F;ich &#x017F;elber<lb/>
gleich&#x017F;am übertreffen mü&#x017F;&#x017F;en. Er &#x017F;chauderte im In-<lb/>
ner&#x017F;ten, er drang mit weit offenem Aug&#x2019; in das tiefe<lb/>
Blau des nächtlichen Himmels und forderte die Ge-<lb/>
&#x017F;tirne heraus, &#x017F;eine Seligkeit mitzuempfinden. Was<lb/>
doch jezt in <hi rendition="#g">Con&#x017F;tanzen</hi> vorgehen mag! &#x2014; er<lb/>
hätte die Welt ver&#x017F;chenken mögen, um die&#x017F;es Einzige<lb/>
zu wi&#x017F;&#x017F;en, und doch pries er wieder &#x017F;eine Ungewißheit,<lb/>
weil &#x017F;ie ihm vergönnte, Alles zu glauben, was er<lb/>
wün&#x017F;chte. Sollte jezt nicht auch in <hi rendition="#g">ihrem</hi> Bu&#x017F;en der<lb/>
wonnevoll&#x017F;te Tumult von Freude, Furcht und Hoffnung<lb/>
laut &#x017F;eyn? und i&#x017F;t nicht der Grund ihrer Seele, wie<lb/>
die Tiefe eines &#x017F;tillen Meeres, jezt von jener unend-<lb/>
lichen Ruhe beherr&#x017F;cht, welche im Bewußt&#x017F;eyn hoher<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[133/0141] heutigen Tag, ſeinen Beſorgniſſen und Hoffnungen ſtille nachzuhängen, indeß der Mond mit immer hel- lerem Lichte die dämmernde Schneelandſchaft überſchien. Was hatte ſich doch verändert in den wenigen Stun- den, ſeit er dieſe Wege hergeritten! um wie viel näher war er gegen alles Denken und Vermuthen ſeinem erſehnteſten Ziele gekommen, ja, das er wirk- lich ſchon erreicht, das er ſchon mit kühnen Armen umſchlungen und auf alle Zukunft für ſich geweiht hatte! Je verwunderter er dieſe raſche Wendung bei ſich überlegte, deſto ſtärker drang ſich ihm der alte Glaube auf, daß es Augenblicke gebe, wo ein innerer Gott den Menſchen unwiderſtehlich beſinnungslos vor- wärts ſtoße, einer großen Entſcheidung entgegen, ſo daß er, daß ſein Schickſal und ſein Glück ſich ſelber gleichſam übertreffen müſſen. Er ſchauderte im In- nerſten, er drang mit weit offenem Aug’ in das tiefe Blau des nächtlichen Himmels und forderte die Ge- ſtirne heraus, ſeine Seligkeit mitzuempfinden. Was doch jezt in Conſtanzen vorgehen mag! — er hätte die Welt verſchenken mögen, um dieſes Einzige zu wiſſen, und doch pries er wieder ſeine Ungewißheit, weil ſie ihm vergönnte, Alles zu glauben, was er wünſchte. Sollte jezt nicht auch in ihrem Buſen der wonnevollſte Tumult von Freude, Furcht und Hoffnung laut ſeyn? und iſt nicht der Grund ihrer Seele, wie die Tiefe eines ſtillen Meeres, jezt von jener unend- lichen Ruhe beherrſcht, welche im Bewußtſeyn hoher

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/141
Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/141>, abgerufen am 20.05.2024.