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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832.

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Eine mächtige und tiefgegründete Leidenschaft, so
viel sehen wir wohl schon jezt, hat sich dieses reizba-
ren Gemüths bemeistert, eine Leidenschaft, deren Ur-
sprung vielleicht ohne Beispiel ist und deren Gefahr
dadurch um nichts geringer wird, daß eine reine Gluth
in ihr zu liegen scheint. Der junge Mensch befand
sich, seit das räthselhafte Wesen verschwunden war, in
dem Zustand eines stillen dumpfen Schmerzens, wobei
er, so oft Adelheid ihn mitleidig ansah, Mühe
hatte, die Thränen zurückzuhalten. Sie nöthigte ihn
auf seine Schlafkammer, wo sie ihm bald gute Nacht
sagte. Der Pfarrer war durch das unerwartete Er-
eigniß des heutigen Abends in seinem gewohnten Gleich-
muthe dergestalt gestört, daß er jezt noch an keine Ruhe
denken konnte. Die Erinnerung an eine bedeutende
Vergangenheit, an das unglückliche Schicksal eines leib-
lichen Bruders wurde nach langer Zeit wieder zum
ersten Male heftig in ihm aufgeregt, er fühlte ein Be-
dürfniß, sich seiner ältesten Tochter mitzutheilen, und
Ernestine, von jeher nur wenig unterrichtet über
jenes merkwürdige Familienverhältniß, sah jezt mit
neugieriger Miene den Vater ein bestäubtes Manu-
script hervorholen, worin die Geschichte ihres Oheims
größtentheils von dessen eigener Hand verzeichnet stand.
Alle Uebrigen im Hause hatten sich zu Bette begeben,
nur Adelheid saß nachdenklich in einem Winkel des
Zimmers und hörte bescheiden zu, indeß der Vater aus
dem Gedächtniß erzählte, nachdem er die vor ihm lie-

Eine mächtige und tiefgegründete Leidenſchaft, ſo
viel ſehen wir wohl ſchon jezt, hat ſich dieſes reizba-
ren Gemüths bemeiſtert, eine Leidenſchaft, deren Ur-
ſprung vielleicht ohne Beiſpiel iſt und deren Gefahr
dadurch um nichts geringer wird, daß eine reine Gluth
in ihr zu liegen ſcheint. Der junge Menſch befand
ſich, ſeit das räthſelhafte Weſen verſchwunden war, in
dem Zuſtand eines ſtillen dumpfen Schmerzens, wobei
er, ſo oft Adelheid ihn mitleidig anſah, Mühe
hatte, die Thränen zurückzuhalten. Sie nöthigte ihn
auf ſeine Schlafkammer, wo ſie ihm bald gute Nacht
ſagte. Der Pfarrer war durch das unerwartete Er-
eigniß des heutigen Abends in ſeinem gewohnten Gleich-
muthe dergeſtalt geſtört, daß er jezt noch an keine Ruhe
denken konnte. Die Erinnerung an eine bedeutende
Vergangenheit, an das unglückliche Schickſal eines leib-
lichen Bruders wurde nach langer Zeit wieder zum
erſten Male heftig in ihm aufgeregt, er fühlte ein Be-
dürfniß, ſich ſeiner älteſten Tochter mitzutheilen, und
Erneſtine, von jeher nur wenig unterrichtet über
jenes merkwürdige Familienverhältniß, ſah jezt mit
neugieriger Miene den Vater ein beſtäubtes Manu-
ſcript hervorholen, worin die Geſchichte ihres Oheims
größtentheils von deſſen eigener Hand verzeichnet ſtand.
Alle Uebrigen im Hauſe hatten ſich zu Bette begeben,
nur Adelheid ſaß nachdenklich in einem Winkel des
Zimmers und hörte beſcheiden zu, indeß der Vater aus
dem Gedächtniß erzählte, nachdem er die vor ihm lie-

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[298/0306] Eine mächtige und tiefgegründete Leidenſchaft, ſo viel ſehen wir wohl ſchon jezt, hat ſich dieſes reizba- ren Gemüths bemeiſtert, eine Leidenſchaft, deren Ur- ſprung vielleicht ohne Beiſpiel iſt und deren Gefahr dadurch um nichts geringer wird, daß eine reine Gluth in ihr zu liegen ſcheint. Der junge Menſch befand ſich, ſeit das räthſelhafte Weſen verſchwunden war, in dem Zuſtand eines ſtillen dumpfen Schmerzens, wobei er, ſo oft Adelheid ihn mitleidig anſah, Mühe hatte, die Thränen zurückzuhalten. Sie nöthigte ihn auf ſeine Schlafkammer, wo ſie ihm bald gute Nacht ſagte. Der Pfarrer war durch das unerwartete Er- eigniß des heutigen Abends in ſeinem gewohnten Gleich- muthe dergeſtalt geſtört, daß er jezt noch an keine Ruhe denken konnte. Die Erinnerung an eine bedeutende Vergangenheit, an das unglückliche Schickſal eines leib- lichen Bruders wurde nach langer Zeit wieder zum erſten Male heftig in ihm aufgeregt, er fühlte ein Be- dürfniß, ſich ſeiner älteſten Tochter mitzutheilen, und Erneſtine, von jeher nur wenig unterrichtet über jenes merkwürdige Familienverhältniß, ſah jezt mit neugieriger Miene den Vater ein beſtäubtes Manu- ſcript hervorholen, worin die Geſchichte ihres Oheims größtentheils von deſſen eigener Hand verzeichnet ſtand. Alle Uebrigen im Hauſe hatten ſich zu Bette begeben, nur Adelheid ſaß nachdenklich in einem Winkel des Zimmers und hörte beſcheiden zu, indeß der Vater aus dem Gedächtniß erzählte, nachdem er die vor ihm lie-

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Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 298. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/306>, abgerufen am 20.05.2024.