Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832.

Bild:
<< vorherige Seite

lich vorüber, und mehrere Wochen verstrichen, ohne
daß es mit der allmähligen Genesung des Mädchens
irgend einen auffallenden Anstoß gegeben hätte. Jezt
aber konnte es dem Vater, und wer ihn sonst besuchen
mochte, nimmer entgehen, daß mit der Tochter eine
Veränderung, und zwar eine sehr bedeutende, vorge-
gangen sey. Offenbar war sie tief am Gemüthe ange-
griffen, auch körperlich bemerkte man die sonderbarste
Reizbarkeit an ihr; im Ganzen war sie sanft, meist
niedergeschlagen, zuweilen ungewöhnlich heiter und ge-
gen ihr sonstiges Wesen zu allerlei Possen geneigt. Oft
machte sie ihrem Herzen durch heftige Thränen Luft,
brach in Klagen aus um den entfernten Geliebten, den
sie mit Sehnsucht zu sich wünschte. Zugleich äußerte
sie eine leidenschaftliche Liebe zur Musik, verlangte
nichts so sehr als irgend ein Instrument spielen zu kön-
nen, und sezte jedesmal hinzu, sie wünsche dieß nur
um Noltens willen, damit er künftig doch wenigstens Ein
Vergnügen von ihr haben möge. "Ich bin ein gar zu
bäurisches einfältiges Geschöpf, und solch ein Mann!
O werden wir denn auch jemals für einander taugen?"
Und wollte man sie nun beruhigen, sezte der Vater den
schlichten treuen Sinn des Bräutigams recht faßlich
auseinander, so konnte sie nur um desto heftiger aus-
rufen: "das ist ja eben der Jammer, daß er sich selber
so betrügt! ihr Alle betrügt euch, und ich mich selbst
in mancher thörichten Viertelstunde. Meint ihr denn,
wie er im vorigen Herbste da war, ich hätte nicht ge-

lich vorüber, und mehrere Wochen verſtrichen, ohne
daß es mit der allmähligen Geneſung des Mädchens
irgend einen auffallenden Anſtoß gegeben hätte. Jezt
aber konnte es dem Vater, und wer ihn ſonſt beſuchen
mochte, nimmer entgehen, daß mit der Tochter eine
Veränderung, und zwar eine ſehr bedeutende, vorge-
gangen ſey. Offenbar war ſie tief am Gemüthe ange-
griffen, auch körperlich bemerkte man die ſonderbarſte
Reizbarkeit an ihr; im Ganzen war ſie ſanft, meiſt
niedergeſchlagen, zuweilen ungewöhnlich heiter und ge-
gen ihr ſonſtiges Weſen zu allerlei Poſſen geneigt. Oft
machte ſie ihrem Herzen durch heftige Thränen Luft,
brach in Klagen aus um den entfernten Geliebten, den
ſie mit Sehnſucht zu ſich wünſchte. Zugleich äußerte
ſie eine leidenſchaftliche Liebe zur Muſik, verlangte
nichts ſo ſehr als irgend ein Inſtrument ſpielen zu kön-
nen, und ſezte jedesmal hinzu, ſie wünſche dieß nur
um Noltens willen, damit er künftig doch wenigſtens Ein
Vergnügen von ihr haben möge. „Ich bin ein gar zu
bäuriſches einfältiges Geſchöpf, und ſolch ein Mann!
O werden wir denn auch jemals für einander taugen?“
Und wollte man ſie nun beruhigen, ſezte der Vater den
ſchlichten treuen Sinn des Bräutigams recht faßlich
auseinander, ſo konnte ſie nur um deſto heftiger aus-
rufen: „das iſt ja eben der Jammer, daß er ſich ſelber
ſo betrügt! ihr Alle betrügt euch, und ich mich ſelbſt
in mancher thörichten Viertelſtunde. Meint ihr denn,
wie er im vorigen Herbſte da war, ich hätte nicht ge-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0075" n="67"/>
lich vorüber, und mehrere Wochen ver&#x017F;trichen, ohne<lb/>
daß es mit der allmähligen Gene&#x017F;ung des Mädchens<lb/>
irgend einen auffallenden An&#x017F;toß gegeben hätte. Jezt<lb/>
aber konnte es dem Vater, und wer ihn &#x017F;on&#x017F;t be&#x017F;uchen<lb/>
mochte, nimmer entgehen, daß mit der Tochter eine<lb/>
Veränderung, und zwar eine &#x017F;ehr bedeutende, vorge-<lb/>
gangen &#x017F;ey. Offenbar war &#x017F;ie tief am Gemüthe ange-<lb/>
griffen, auch körperlich bemerkte man die &#x017F;onderbar&#x017F;te<lb/>
Reizbarkeit an ihr; im Ganzen war &#x017F;ie &#x017F;anft, mei&#x017F;t<lb/>
niederge&#x017F;chlagen, zuweilen ungewöhnlich heiter und ge-<lb/>
gen ihr &#x017F;on&#x017F;tiges We&#x017F;en zu allerlei Po&#x017F;&#x017F;en geneigt. Oft<lb/>
machte &#x017F;ie ihrem Herzen durch heftige Thränen Luft,<lb/>
brach in Klagen aus um den entfernten Geliebten, den<lb/>
&#x017F;ie mit Sehn&#x017F;ucht zu &#x017F;ich wün&#x017F;chte. Zugleich äußerte<lb/>
&#x017F;ie eine leiden&#x017F;chaftliche Liebe zur Mu&#x017F;ik, verlangte<lb/>
nichts &#x017F;o &#x017F;ehr als irgend ein In&#x017F;trument &#x017F;pielen zu kön-<lb/>
nen, und &#x017F;ezte jedesmal hinzu, &#x017F;ie wün&#x017F;che dieß nur<lb/>
um <hi rendition="#g">Noltens</hi> willen, damit er künftig doch wenig&#x017F;tens Ein<lb/>
Vergnügen von ihr haben möge. &#x201E;Ich bin ein gar zu<lb/>
bäuri&#x017F;ches einfältiges Ge&#x017F;chöpf, und &#x017F;olch ein Mann!<lb/>
O werden wir denn auch jemals für einander taugen?&#x201C;<lb/>
Und wollte man &#x017F;ie nun beruhigen, &#x017F;ezte der Vater den<lb/>
&#x017F;chlichten treuen Sinn des Bräutigams recht faßlich<lb/>
auseinander, &#x017F;o konnte &#x017F;ie nur um de&#x017F;to heftiger aus-<lb/>
rufen: &#x201E;das i&#x017F;t ja eben der Jammer, daß er &#x017F;ich &#x017F;elber<lb/>
&#x017F;o betrügt! ihr Alle betrügt euch, und ich mich &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
in mancher thörichten Viertel&#x017F;tunde. Meint ihr denn,<lb/>
wie er im vorigen Herb&#x017F;te da war, ich hätte nicht ge-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[67/0075] lich vorüber, und mehrere Wochen verſtrichen, ohne daß es mit der allmähligen Geneſung des Mädchens irgend einen auffallenden Anſtoß gegeben hätte. Jezt aber konnte es dem Vater, und wer ihn ſonſt beſuchen mochte, nimmer entgehen, daß mit der Tochter eine Veränderung, und zwar eine ſehr bedeutende, vorge- gangen ſey. Offenbar war ſie tief am Gemüthe ange- griffen, auch körperlich bemerkte man die ſonderbarſte Reizbarkeit an ihr; im Ganzen war ſie ſanft, meiſt niedergeſchlagen, zuweilen ungewöhnlich heiter und ge- gen ihr ſonſtiges Weſen zu allerlei Poſſen geneigt. Oft machte ſie ihrem Herzen durch heftige Thränen Luft, brach in Klagen aus um den entfernten Geliebten, den ſie mit Sehnſucht zu ſich wünſchte. Zugleich äußerte ſie eine leidenſchaftliche Liebe zur Muſik, verlangte nichts ſo ſehr als irgend ein Inſtrument ſpielen zu kön- nen, und ſezte jedesmal hinzu, ſie wünſche dieß nur um Noltens willen, damit er künftig doch wenigſtens Ein Vergnügen von ihr haben möge. „Ich bin ein gar zu bäuriſches einfältiges Geſchöpf, und ſolch ein Mann! O werden wir denn auch jemals für einander taugen?“ Und wollte man ſie nun beruhigen, ſezte der Vater den ſchlichten treuen Sinn des Bräutigams recht faßlich auseinander, ſo konnte ſie nur um deſto heftiger aus- rufen: „das iſt ja eben der Jammer, daß er ſich ſelber ſo betrügt! ihr Alle betrügt euch, und ich mich ſelbſt in mancher thörichten Viertelſtunde. Meint ihr denn, wie er im vorigen Herbſte da war, ich hätte nicht ge-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/75
Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/75>, abgerufen am 09.11.2024.