klar, daß sie schon in gesunden Tagen diese Sorge heimlich genährt und wieder unterdrückt hatte, daß ein krankes Gefühl, das von jenem Nervenübel bei ihr zurückgeblieben war, sich mit Gewalt auf den verletzbarsten Theil des zarten Gemüthes geworfen haben müsse.
Damit wir jedoch sogleich über das Ganze ein hinreichendes Licht verbreiten, sind wir die Erzäh- lung einer Thatsache schuldig, welche jenen Symptomen von Schwermuth vorausging, und wodurch das, was vielleicht nur vorübergehende Grille war, eine weit schwierigere Gestalt annahm.
Zwei Wochen, nachdem Agnes vom Kranken- lager frei gesprochen war, hatte sie vom Arzte die Er- laubniß erhalten, zum ersten Mal wieder die freie Luft zu kosten. Es war an jenem Tage eben ein weitläuf- tiger Verwandter, dessen eigentliche Bekanntschaft man jezt erst machte, im Hause gegenwärtig; der junge Mann war seit Kurzem in der benachbarten Stadt bei der Landesvermessung angestellt und bei dem Förster ein um so willkommnerer Gast, als er neben einem an- genehmen Aeußern manches schöne gesellige Talent bewies. Man speis'te fröhlich zu Mittag und Agnes durfte den Vetter Otto nach Tisch beim wärmsten Sonnenschein eine Strecke gegen die Stadt hin beglei- ten. Das Mädchen, wie neugeboren unter'm offenen Himmel, genoß ganz das erhebende Vergnügen neuge- schenkter Gesundheit, das sich mit nichts vergleichen läßt;
klar, daß ſie ſchon in geſunden Tagen dieſe Sorge heimlich genährt und wieder unterdrückt hatte, daß ein krankes Gefühl, das von jenem Nervenübel bei ihr zurückgeblieben war, ſich mit Gewalt auf den verletzbarſten Theil des zarten Gemüthes geworfen haben müſſe.
Damit wir jedoch ſogleich über das Ganze ein hinreichendes Licht verbreiten, ſind wir die Erzäh- lung einer Thatſache ſchuldig, welche jenen Symptomen von Schwermuth vorausging, und wodurch das, was vielleicht nur vorübergehende Grille war, eine weit ſchwierigere Geſtalt annahm.
Zwei Wochen, nachdem Agnes vom Kranken- lager frei geſprochen war, hatte ſie vom Arzte die Er- laubniß erhalten, zum erſten Mal wieder die freie Luft zu koſten. Es war an jenem Tage eben ein weitläuf- tiger Verwandter, deſſen eigentliche Bekanntſchaft man jezt erſt machte, im Hauſe gegenwärtig; der junge Mann war ſeit Kurzem in der benachbarten Stadt bei der Landesvermeſſung angeſtellt und bei dem Förſter ein um ſo willkommnerer Gaſt, als er neben einem an- genehmen Aeußern manches ſchöne geſellige Talent bewies. Man ſpeiſ’te fröhlich zu Mittag und Agnes durfte den Vetter Otto nach Tiſch beim wärmſten Sonnenſchein eine Strecke gegen die Stadt hin beglei- ten. Das Mädchen, wie neugeboren unter’m offenen Himmel, genoß ganz das erhebende Vergnügen neuge- ſchenkter Geſundheit, das ſich mit nichts vergleichen läßt;
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klar, daß ſie ſchon in geſunden Tagen dieſe Sorge
heimlich genährt und wieder unterdrückt hatte, daß
ein krankes Gefühl, das von jenem Nervenübel bei
ihr zurückgeblieben war, ſich mit Gewalt auf den
verletzbarſten Theil des zarten Gemüthes geworfen
haben müſſe.
Damit wir jedoch ſogleich über das Ganze ein
hinreichendes Licht verbreiten, ſind wir die Erzäh-
lung einer Thatſache ſchuldig, welche jenen Symptomen
von Schwermuth vorausging, und wodurch das, was
vielleicht nur vorübergehende Grille war, eine weit
ſchwierigere Geſtalt annahm.
Zwei Wochen, nachdem Agnes vom Kranken-
lager frei geſprochen war, hatte ſie vom Arzte die Er-
laubniß erhalten, zum erſten Mal wieder die freie Luft
zu koſten. Es war an jenem Tage eben ein weitläuf-
tiger Verwandter, deſſen eigentliche Bekanntſchaft man
jezt erſt machte, im Hauſe gegenwärtig; der junge
Mann war ſeit Kurzem in der benachbarten Stadt bei
der Landesvermeſſung angeſtellt und bei dem Förſter
ein um ſo willkommnerer Gaſt, als er neben einem an-
genehmen Aeußern manches ſchöne geſellige Talent
bewies. Man ſpeiſ’te fröhlich zu Mittag und Agnes
durfte den Vetter Otto nach Tiſch beim wärmſten
Sonnenſchein eine Strecke gegen die Stadt hin beglei-
ten. Das Mädchen, wie neugeboren unter’m offenen
Himmel, genoß ganz das erhebende Vergnügen neuge-
ſchenkter Geſundheit, das ſich mit nichts vergleichen läßt;
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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/77>, abgerufen am 09.11.2024.
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