Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832.

Bild:
<< vorherige Seite

Am Morgen kam ein Billet des Präsidenten und
lud den Maler mit den Frauenzimmern zu einem ein-
fachen Mittagmahl. Nolten war diese Ableitung
besonders um der Mädchen willen sehr erwünscht, mit
deren verlassenem Zustande, weil er jeden Augenblick
veranlaßt ward, bald aus dem Hause zu gehen, bald
sich mit Schreibereien zu befassen, man in der That
Bedauern haben mußte. Agnes und ihr Benehmen
war indeß zu loben. Bei allen Zeichen des aufrich-
tigsten Antheils bewies sie durchaus eine schöne, ver-
nünftige Ruhe, sogar schien sie natürlicher, und sicherer in
sich selbst, als es auf der ganzen Reise der Fall gewe-
sen seyn mochte; nicht nur dem Maler, auch Nannet-
ten
fiel das auf. Es hatte aber diese sonderbare
Verwandlung ihren guten Grund, nur daß das Mäd-
chen zu bescheiden war, ihn zu entdecken, oder zu
schüchtern vielmehr, um an ihre alten "Wunderlichkei-
ten" (wie Theobald zuweilen sagte) in dem Augen-
blicke zu mahnen, wo es sich um eine ernste und schau-
dervolle Wirklichkeit handelte. Allein auch ihr war
es ein hoher Ernst mit dem, was sie für jezt zurück-
zuhalten rathsam fand. Denn in der ganzen schreck-
lichen Begebenheit mit Larkens erblickte sie nichts
Anderes als die gewisse Erfüllung eines ungewissen
Vorgefühls, und so vermochte sie ein offenbares und
geschehenes Uebel mit leichterem Herzen zu beweinen,
als ein gedrohtes zu erwarten.

Nolten erkundigte sich bei dem Wirth nach den

Am Morgen kam ein Billet des Präſidenten und
lud den Maler mit den Frauenzimmern zu einem ein-
fachen Mittagmahl. Nolten war dieſe Ableitung
beſonders um der Mädchen willen ſehr erwünſcht, mit
deren verlaſſenem Zuſtande, weil er jeden Augenblick
veranlaßt ward, bald aus dem Hauſe zu gehen, bald
ſich mit Schreibereien zu befaſſen, man in der That
Bedauern haben mußte. Agnes und ihr Benehmen
war indeß zu loben. Bei allen Zeichen des aufrich-
tigſten Antheils bewies ſie durchaus eine ſchöne, ver-
nünftige Ruhe, ſogar ſchien ſie natürlicher, und ſicherer in
ſich ſelbſt, als es auf der ganzen Reiſe der Fall gewe-
ſen ſeyn mochte; nicht nur dem Maler, auch Nannet-
ten
fiel das auf. Es hatte aber dieſe ſonderbare
Verwandlung ihren guten Grund, nur daß das Mäd-
chen zu beſcheiden war, ihn zu entdecken, oder zu
ſchüchtern vielmehr, um an ihre alten „Wunderlichkei-
ten“ (wie Theobald zuweilen ſagte) in dem Augen-
blicke zu mahnen, wo es ſich um eine ernſte und ſchau-
dervolle Wirklichkeit handelte. Allein auch ihr war
es ein hoher Ernſt mit dem, was ſie für jezt zurück-
zuhalten rathſam fand. Denn in der ganzen ſchreck-
lichen Begebenheit mit Larkens erblickte ſie nichts
Anderes als die gewiſſe Erfüllung eines ungewiſſen
Vorgefühls, und ſo vermochte ſie ein offenbares und
geſchehenes Uebel mit leichterem Herzen zu beweinen,
als ein gedrohtes zu erwarten.

Nolten erkundigte ſich bei dem Wirth nach den

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0201" n="515"/>
          <p>Am Morgen kam ein Billet des Prä&#x017F;identen und<lb/>
lud den Maler mit den Frauenzimmern zu einem ein-<lb/>
fachen Mittagmahl. <hi rendition="#g">Nolten</hi> war die&#x017F;e Ableitung<lb/>
be&#x017F;onders um der Mädchen willen &#x017F;ehr erwün&#x017F;cht, mit<lb/>
deren verla&#x017F;&#x017F;enem Zu&#x017F;tande, weil er jeden Augenblick<lb/>
veranlaßt ward, bald aus dem Hau&#x017F;e zu gehen, bald<lb/>
&#x017F;ich mit Schreibereien zu befa&#x017F;&#x017F;en, man in der That<lb/>
Bedauern haben mußte. <hi rendition="#g">Agnes</hi> und ihr Benehmen<lb/>
war indeß zu loben. Bei allen Zeichen des aufrich-<lb/>
tig&#x017F;ten Antheils bewies &#x017F;ie durchaus eine &#x017F;chöne, ver-<lb/>
nünftige Ruhe, &#x017F;ogar &#x017F;chien &#x017F;ie natürlicher, und &#x017F;icherer in<lb/>
&#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t, als es auf der ganzen Rei&#x017F;e der Fall gewe-<lb/>
&#x017F;en &#x017F;eyn mochte; nicht nur dem Maler, auch <hi rendition="#g">Nannet-<lb/>
ten</hi> fiel das auf. Es hatte aber die&#x017F;e &#x017F;onderbare<lb/>
Verwandlung ihren guten Grund, nur daß das Mäd-<lb/>
chen zu be&#x017F;cheiden war, ihn zu entdecken, oder zu<lb/>
&#x017F;chüchtern vielmehr, um an ihre alten &#x201E;Wunderlichkei-<lb/>
ten&#x201C; (wie <hi rendition="#g">Theobald</hi> zuweilen &#x017F;agte) in dem Augen-<lb/>
blicke zu mahnen, wo es &#x017F;ich um eine ern&#x017F;te und &#x017F;chau-<lb/>
dervolle Wirklichkeit handelte. Allein auch ihr war<lb/>
es ein hoher Ern&#x017F;t mit dem, was &#x017F;ie für jezt zurück-<lb/>
zuhalten rath&#x017F;am fand. Denn in der ganzen &#x017F;chreck-<lb/>
lichen Begebenheit mit <hi rendition="#g">Larkens</hi> erblickte &#x017F;ie nichts<lb/>
Anderes als die gewi&#x017F;&#x017F;e Erfüllung eines ungewi&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Vorgefühls, und &#x017F;o vermochte &#x017F;ie ein offenbares und<lb/>
ge&#x017F;chehenes Uebel mit leichterem Herzen zu beweinen,<lb/>
als ein gedrohtes zu erwarten.</p><lb/>
          <p><hi rendition="#g">Nolten</hi> erkundigte &#x017F;ich bei dem Wirth nach den<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[515/0201] Am Morgen kam ein Billet des Präſidenten und lud den Maler mit den Frauenzimmern zu einem ein- fachen Mittagmahl. Nolten war dieſe Ableitung beſonders um der Mädchen willen ſehr erwünſcht, mit deren verlaſſenem Zuſtande, weil er jeden Augenblick veranlaßt ward, bald aus dem Hauſe zu gehen, bald ſich mit Schreibereien zu befaſſen, man in der That Bedauern haben mußte. Agnes und ihr Benehmen war indeß zu loben. Bei allen Zeichen des aufrich- tigſten Antheils bewies ſie durchaus eine ſchöne, ver- nünftige Ruhe, ſogar ſchien ſie natürlicher, und ſicherer in ſich ſelbſt, als es auf der ganzen Reiſe der Fall gewe- ſen ſeyn mochte; nicht nur dem Maler, auch Nannet- ten fiel das auf. Es hatte aber dieſe ſonderbare Verwandlung ihren guten Grund, nur daß das Mäd- chen zu beſcheiden war, ihn zu entdecken, oder zu ſchüchtern vielmehr, um an ihre alten „Wunderlichkei- ten“ (wie Theobald zuweilen ſagte) in dem Augen- blicke zu mahnen, wo es ſich um eine ernſte und ſchau- dervolle Wirklichkeit handelte. Allein auch ihr war es ein hoher Ernſt mit dem, was ſie für jezt zurück- zuhalten rathſam fand. Denn in der ganzen ſchreck- lichen Begebenheit mit Larkens erblickte ſie nichts Anderes als die gewiſſe Erfüllung eines ungewiſſen Vorgefühls, und ſo vermochte ſie ein offenbares und geſchehenes Uebel mit leichterem Herzen zu beweinen, als ein gedrohtes zu erwarten. Nolten erkundigte ſich bei dem Wirth nach den

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/201
Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 515. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/201>, abgerufen am 21.11.2024.