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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832.

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Zur Emporkirche stieg er nun auf; er sah ein
altes Bleistiftzeichen wieder, das er einst in einem be-
deutenden Zeitpunkt, abergläubisch, gleichsam als Frage
an die Zukunft, hingekritzelt hatte -- aber wie schnell
bestürzt wendet seine Aufmerksamkeit sich ab, als ihm
durch die bestäubten Glasscheiben außen eine weibliche
Figur auffällt, über die er keinen Augenblick im Zwei-
fel bleiben kann. Agnes ist es wirklich. Sein Bu-
sen zieht sich athemlos zusammen, er vermag sich nicht
von der Stelle zu bewegen, und um so weniger, je
treffender, je rührender die Stellung ist, worin eben
jezt ihm das Mädchen erscheint. Er öffnet behut-
sam den Fensterflügel um etwas und steht wie ein-
gewurzelt.

Die den Kirchhof umschließende Mauer bildet
etwa in der Hälfte ihrer Höhe ein breites fortlaufen-
des Gesimse, worauf sich ein Kreuz von alter Stein-
hauerarbeit freistehend erhebt; an dessen Fuße auf
dem Gesimse sizt, noch immer in beträchtlicher Höhe
über dem Boden, das liebliche Geschöpf mit dem
Strickzeug und im Hauskleide, so daß dem Freunde
das Profil des Gesichts vollkommen gegönnt ist; an
einem Arm des Kreuzes über dem Kopfe der Sitzen-
den hängt ein frischer Kranz von Immergrün, sie sel-
ber bückt sich so eben aufmerksam, die Nadel leise
an die Lippen haltend, gegen eine Staude vorwärts,
worauf ein Papillon die glänzenden Flügel wählig
auf und zuzieht; jezt, indem er auffliegt, gleitet ihr

Zur Emporkirche ſtieg er nun auf; er ſah ein
altes Bleiſtiftzeichen wieder, das er einſt in einem be-
deutenden Zeitpunkt, abergläubiſch, gleichſam als Frage
an die Zukunft, hingekritzelt hatte — aber wie ſchnell
beſtürzt wendet ſeine Aufmerkſamkeit ſich ab, als ihm
durch die beſtäubten Glasſcheiben außen eine weibliche
Figur auffällt, über die er keinen Augenblick im Zwei-
fel bleiben kann. Agnes iſt es wirklich. Sein Bu-
ſen zieht ſich athemlos zuſammen, er vermag ſich nicht
von der Stelle zu bewegen, und um ſo weniger, je
treffender, je rührender die Stellung iſt, worin eben
jezt ihm das Mädchen erſcheint. Er öffnet behut-
ſam den Fenſterflügel um etwas und ſteht wie ein-
gewurzelt.

Die den Kirchhof umſchließende Mauer bildet
etwa in der Hälfte ihrer Höhe ein breites fortlaufen-
des Geſimſe, worauf ſich ein Kreuz von alter Stein-
hauerarbeit freiſtehend erhebt; an deſſen Fuße auf
dem Geſimſe ſizt, noch immer in beträchtlicher Höhe
über dem Boden, das liebliche Geſchöpf mit dem
Strickzeug und im Hauskleide, ſo daß dem Freunde
das Profil des Geſichts vollkommen gegönnt iſt; an
einem Arm des Kreuzes über dem Kopfe der Sitzen-
den hängt ein friſcher Kranz von Immergrün, ſie ſel-
ber bückt ſich ſo eben aufmerkſam, die Nadel leiſe
an die Lippen haltend, gegen eine Staude vorwärts,
worauf ein Papillon die glänzenden Flügel wählig
auf und zuzieht; jezt, indem er auffliegt, gleitet ihr

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[399/0085] Zur Emporkirche ſtieg er nun auf; er ſah ein altes Bleiſtiftzeichen wieder, das er einſt in einem be- deutenden Zeitpunkt, abergläubiſch, gleichſam als Frage an die Zukunft, hingekritzelt hatte — aber wie ſchnell beſtürzt wendet ſeine Aufmerkſamkeit ſich ab, als ihm durch die beſtäubten Glasſcheiben außen eine weibliche Figur auffällt, über die er keinen Augenblick im Zwei- fel bleiben kann. Agnes iſt es wirklich. Sein Bu- ſen zieht ſich athemlos zuſammen, er vermag ſich nicht von der Stelle zu bewegen, und um ſo weniger, je treffender, je rührender die Stellung iſt, worin eben jezt ihm das Mädchen erſcheint. Er öffnet behut- ſam den Fenſterflügel um etwas und ſteht wie ein- gewurzelt. Die den Kirchhof umſchließende Mauer bildet etwa in der Hälfte ihrer Höhe ein breites fortlaufen- des Geſimſe, worauf ſich ein Kreuz von alter Stein- hauerarbeit freiſtehend erhebt; an deſſen Fuße auf dem Geſimſe ſizt, noch immer in beträchtlicher Höhe über dem Boden, das liebliche Geſchöpf mit dem Strickzeug und im Hauskleide, ſo daß dem Freunde das Profil des Geſichts vollkommen gegönnt iſt; an einem Arm des Kreuzes über dem Kopfe der Sitzen- den hängt ein friſcher Kranz von Immergrün, ſie ſel- ber bückt ſich ſo eben aufmerkſam, die Nadel leiſe an die Lippen haltend, gegen eine Staude vorwärts, worauf ein Papillon die glänzenden Flügel wählig auf und zuzieht; jezt, indem er auffliegt, gleitet ihr

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Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 399. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/85>, abgerufen am 21.11.2024.