Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 1. Berlin, 1775.

Bild:
<< vorherige Seite
unsrer Vorfahren.

Die Wundärzte schicken ihre Rechnungen zur Lan-
descasse ein, wenn sie einem armen Unglücklichen gedienet
haben.

Die Richter wollen den Armen nicht umsonst dienen,
die Gerichtsschreiber ihre Copeygebühren nicht fahren lassen,
die Advocaten nicht umsonst schreiben und die Procuratoren
nicht umsonst laufen, ohnerachtet sie miteinander wenigstens
den Zehnten ihres Fleißes den Armen nach den Carolingischen
Gesetzen schuldig sind.

Die Zehnten kommen den Armen nicht mehr zu gute;
die Allmosen sind des Geizigen Willkühr überlassen, und die
Reichen sind froh, wenn sie sich des Ueberlaufs und Bettlens
auf andrer Rechnung erwehren können.

Jeder nimmt nach Gefallen Fremde und Arme auf seine
Gründe, und läßt sie das Land belaufen. Die christliche
Religion verpflichtet keinen mehr, sich armer Anverwandten
anzunehmen. Man schickt sie lieber auf die Lansescasse.
Das ist die Einrichtung unsrer erleuchteten Zeiten.

Carl der Große wolte nicht haben, daß ein Kind auf-
wachsen solte, ohne eine Kunst zu lernen, womit es sich er-
nähren könnte. Dies ist der Sinn des Gesetzes: De com-
puto ut omnes veraciter discant; de medicinali arte ut
infantes hanc discere mittantur Cap. I. 1. de
805. §. 5.
Wir hingegen lassen die Jugend auf dem Lande, welche der-
einst zum Ackerbau bestimmt ist, die Gänse und Schweine
hüten, wovon sie wahrlich nicht lernen werden, sich bey meh-
rern Jahren zu ernähren und zu unterhalten. Die Mutter
eines Kindes, das im zwölften Jahre sich seine Strümpfe
nicht knütten oder sein Hemd nicht nähen, oder seine andert-
halb Stück Garn des Tages nicht hätte spinnen können, würde

Carl
F 2
unſrer Vorfahren.

Die Wundaͤrzte ſchicken ihre Rechnungen zur Lan-
descaſſe ein, wenn ſie einem armen Ungluͤcklichen gedienet
haben.

Die Richter wollen den Armen nicht umſonſt dienen,
die Gerichtsſchreiber ihre Copeygebuͤhren nicht fahren laſſen,
die Advocaten nicht umſonſt ſchreiben und die Procuratoren
nicht umſonſt laufen, ohnerachtet ſie miteinander wenigſtens
den Zehnten ihres Fleißes den Armen nach den Carolingiſchen
Geſetzen ſchuldig ſind.

Die Zehnten kommen den Armen nicht mehr zu gute;
die Allmoſen ſind des Geizigen Willkuͤhr uͤberlaſſen, und die
Reichen ſind froh, wenn ſie ſich des Ueberlaufs und Bettlens
auf andrer Rechnung erwehren koͤnnen.

Jeder nimmt nach Gefallen Fremde und Arme auf ſeine
Gruͤnde, und laͤßt ſie das Land belaufen. Die chriſtliche
Religion verpflichtet keinen mehr, ſich armer Anverwandten
anzunehmen. Man ſchickt ſie lieber auf die Lansescaſſe.
Das iſt die Einrichtung unſrer erleuchteten Zeiten.

Carl der Große wolte nicht haben, daß ein Kind auf-
wachſen ſolte, ohne eine Kunſt zu lernen, womit es ſich er-
naͤhren koͤnnte. Dies iſt der Sinn des Geſetzes: De com-
puto ut omnes veraciter diſcant; de medicinali arte ut
infantes hanc diſcere mittantur Cap. I. 1. de
805. §. 5.
Wir hingegen laſſen die Jugend auf dem Lande, welche der-
einſt zum Ackerbau beſtimmt iſt, die Gaͤnſe und Schweine
huͤten, wovon ſie wahrlich nicht lernen werden, ſich bey meh-
rern Jahren zu ernaͤhren und zu unterhalten. Die Mutter
eines Kindes, das im zwoͤlften Jahre ſich ſeine Struͤmpfe
nicht knuͤtten oder ſein Hemd nicht naͤhen, oder ſeine andert-
halb Stuͤck Garn des Tages nicht haͤtte ſpinnen koͤnnen, wuͤrde

Carl
F 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0101" n="83"/>
        <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">un&#x017F;rer Vorfahren.</hi> </fw><lb/>
        <p>Die Wunda&#x0364;rzte &#x017F;chicken ihre Rechnungen zur Lan-<lb/>
desca&#x017F;&#x017F;e ein, wenn &#x017F;ie einem armen Unglu&#x0364;cklichen gedienet<lb/>
haben.</p><lb/>
        <p>Die Richter wollen den Armen nicht um&#x017F;on&#x017F;t dienen,<lb/>
die Gerichts&#x017F;chreiber ihre Copeygebu&#x0364;hren nicht fahren la&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
die Advocaten nicht um&#x017F;on&#x017F;t &#x017F;chreiben und die Procuratoren<lb/>
nicht um&#x017F;on&#x017F;t laufen, ohnerachtet &#x017F;ie miteinander wenig&#x017F;tens<lb/>
den Zehnten ihres Fleißes den Armen nach den Carolingi&#x017F;chen<lb/>
Ge&#x017F;etzen &#x017F;chuldig &#x017F;ind.</p><lb/>
        <p>Die Zehnten kommen den Armen nicht mehr zu gute;<lb/>
die Allmo&#x017F;en &#x017F;ind des Geizigen Willku&#x0364;hr u&#x0364;berla&#x017F;&#x017F;en, und die<lb/>
Reichen &#x017F;ind froh, wenn &#x017F;ie &#x017F;ich des Ueberlaufs und Bettlens<lb/>
auf andrer Rechnung erwehren ko&#x0364;nnen.</p><lb/>
        <p>Jeder nimmt nach Gefallen Fremde und Arme auf &#x017F;eine<lb/>
Gru&#x0364;nde, und la&#x0364;ßt &#x017F;ie das Land belaufen. Die chri&#x017F;tliche<lb/>
Religion verpflichtet keinen mehr, &#x017F;ich armer Anverwandten<lb/>
anzunehmen. Man &#x017F;chickt &#x017F;ie lieber auf die Lansesca&#x017F;&#x017F;e.<lb/>
Das i&#x017F;t die Einrichtung un&#x017F;rer erleuchteten Zeiten.</p><lb/>
        <p>Carl der Große wolte nicht haben, daß ein Kind auf-<lb/>
wach&#x017F;en &#x017F;olte, ohne eine Kun&#x017F;t zu lernen, womit es &#x017F;ich er-<lb/>
na&#x0364;hren ko&#x0364;nnte. Dies i&#x017F;t der Sinn des Ge&#x017F;etzes: <hi rendition="#aq">De com-<lb/>
puto ut omnes veraciter di&#x017F;cant; de medicinali arte ut<lb/>
infantes hanc di&#x017F;cere mittantur <hi rendition="#i">Cap. I.</hi> 1. de</hi> 805. §. 5.<lb/>
Wir hingegen la&#x017F;&#x017F;en die Jugend auf dem Lande, welche der-<lb/>
ein&#x017F;t zum Ackerbau be&#x017F;timmt i&#x017F;t, die Ga&#x0364;n&#x017F;e und Schweine<lb/>
hu&#x0364;ten, wovon &#x017F;ie wahrlich nicht lernen werden, &#x017F;ich bey meh-<lb/>
rern Jahren zu erna&#x0364;hren und zu unterhalten. Die Mutter<lb/>
eines Kindes, das im zwo&#x0364;lften Jahre &#x017F;ich &#x017F;eine Stru&#x0364;mpfe<lb/>
nicht knu&#x0364;tten oder &#x017F;ein Hemd nicht na&#x0364;hen, oder &#x017F;eine andert-<lb/>
halb Stu&#x0364;ck Garn des Tages nicht ha&#x0364;tte &#x017F;pinnen ko&#x0364;nnen, wu&#x0364;rde<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">F 2</fw><fw place="bottom" type="catch">Carl</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[83/0101] unſrer Vorfahren. Die Wundaͤrzte ſchicken ihre Rechnungen zur Lan- descaſſe ein, wenn ſie einem armen Ungluͤcklichen gedienet haben. Die Richter wollen den Armen nicht umſonſt dienen, die Gerichtsſchreiber ihre Copeygebuͤhren nicht fahren laſſen, die Advocaten nicht umſonſt ſchreiben und die Procuratoren nicht umſonſt laufen, ohnerachtet ſie miteinander wenigſtens den Zehnten ihres Fleißes den Armen nach den Carolingiſchen Geſetzen ſchuldig ſind. Die Zehnten kommen den Armen nicht mehr zu gute; die Allmoſen ſind des Geizigen Willkuͤhr uͤberlaſſen, und die Reichen ſind froh, wenn ſie ſich des Ueberlaufs und Bettlens auf andrer Rechnung erwehren koͤnnen. Jeder nimmt nach Gefallen Fremde und Arme auf ſeine Gruͤnde, und laͤßt ſie das Land belaufen. Die chriſtliche Religion verpflichtet keinen mehr, ſich armer Anverwandten anzunehmen. Man ſchickt ſie lieber auf die Lansescaſſe. Das iſt die Einrichtung unſrer erleuchteten Zeiten. Carl der Große wolte nicht haben, daß ein Kind auf- wachſen ſolte, ohne eine Kunſt zu lernen, womit es ſich er- naͤhren koͤnnte. Dies iſt der Sinn des Geſetzes: De com- puto ut omnes veraciter diſcant; de medicinali arte ut infantes hanc diſcere mittantur Cap. I. 1. de 805. §. 5. Wir hingegen laſſen die Jugend auf dem Lande, welche der- einſt zum Ackerbau beſtimmt iſt, die Gaͤnſe und Schweine huͤten, wovon ſie wahrlich nicht lernen werden, ſich bey meh- rern Jahren zu ernaͤhren und zu unterhalten. Die Mutter eines Kindes, das im zwoͤlften Jahre ſich ſeine Struͤmpfe nicht knuͤtten oder ſein Hemd nicht naͤhen, oder ſeine andert- halb Stuͤck Garn des Tages nicht haͤtte ſpinnen koͤnnen, wuͤrde Carl F 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien01_1775
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien01_1775/101
Zitationshilfe: Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 1. Berlin, 1775, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien01_1775/101>, abgerufen am 24.11.2024.