Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 1. Berlin, 1775.

Bild:
<< vorherige Seite

Das Glück der Bettler.
sich ungescheut wo es ihm juckt; nimmt sich ein Weib und
scheidet sich davon unentgeltlich und ohne Proceß; zeugt Kin-
der ohne ängstliche Rechnung, wie er sie versorgen will; wohnt
und reiset sicher vor Diebe, findet jede Herberge bequem, und
überall Brod; leidet nichts im Kriege oder von betriegerischen
Freunden; trotzt dem größten Herrn, und ist der ganzen
Welt Bürger. Alles was ihm dem Anschein nach fehlt, ist
die Delicatesse, oder derjenige zärtliche Eckel, womit wir al-
les, was nicht gut aussieht, verschmähen. Allein, wer ist
im Grunde der Glücklichste; der Mann, der ein Stück Brod,
wenn es gleich sandig ist, vergnügt herunter schlucken kann;
oder der Zärtling, der in allen Herbergen hungern muß, weil
er seinen Mundkoch nicht bey sich hat? Und wie sehr erwei-
tert derjenige nicht die Sphäre seines Vergnügens, der sich
jedes Brod wohl schmecken läßt?

Wie beschwerlich ist dagegen der Zustand des fleißigen
Arbeiters, der sich von dem Morgen bis zum Abend quälet,
sich und seine Familie von eignem Schweisse zu ernähren? Alle
öffentliche Lasten fallen auf ihn. Bey jedem Ueberfall feind-
licher Partheyen muß er zittern. Um sich in dem nöthigen
Ansehen und Credit zu erhalten, muß er oft Wasser und Brod
essen, seine Nächte mit ängstlicher Sorge zubringen, und eine
heimliche Thräne nach der andern vergiessen ..... Wenn
ich solchergestalt den ehrlichen fleißigen Arbeiter mit dem
Bettler vergleiche: so muß ich gestehen, daß es eine überaus
starke Versuchung sey lieber zu betteln als zu arbeiten. Das
einzige was den Bettlern bishero gefehlt, ist dieses, daß ihre
Nahrung unrühmlich gewesen, und diesen Fehler will ich
nechstens abhelfen.



XI.
E 5

Das Gluͤck der Bettler.
ſich ungeſcheut wo es ihm juckt; nimmt ſich ein Weib und
ſcheidet ſich davon unentgeltlich und ohne Proceß; zeugt Kin-
der ohne aͤngſtliche Rechnung, wie er ſie verſorgen will; wohnt
und reiſet ſicher vor Diebe, findet jede Herberge bequem, und
uͤberall Brod; leidet nichts im Kriege oder von betriegeriſchen
Freunden; trotzt dem groͤßten Herrn, und iſt der ganzen
Welt Buͤrger. Alles was ihm dem Anſchein nach fehlt, iſt
die Delicateſſe, oder derjenige zaͤrtliche Eckel, womit wir al-
les, was nicht gut ausſieht, verſchmaͤhen. Allein, wer iſt
im Grunde der Gluͤcklichſte; der Mann, der ein Stuͤck Brod,
wenn es gleich ſandig iſt, vergnuͤgt herunter ſchlucken kann;
oder der Zaͤrtling, der in allen Herbergen hungern muß, weil
er ſeinen Mundkoch nicht bey ſich hat? Und wie ſehr erwei-
tert derjenige nicht die Sphaͤre ſeines Vergnuͤgens, der ſich
jedes Brod wohl ſchmecken laͤßt?

Wie beſchwerlich iſt dagegen der Zuſtand des fleißigen
Arbeiters, der ſich von dem Morgen bis zum Abend quaͤlet,
ſich und ſeine Familie von eignem Schweiſſe zu ernaͤhren? Alle
oͤffentliche Laſten fallen auf ihn. Bey jedem Ueberfall feind-
licher Partheyen muß er zittern. Um ſich in dem noͤthigen
Anſehen und Credit zu erhalten, muß er oft Waſſer und Brod
eſſen, ſeine Naͤchte mit aͤngſtlicher Sorge zubringen, und eine
heimliche Thraͤne nach der andern vergieſſen ..... Wenn
ich ſolchergeſtalt den ehrlichen fleißigen Arbeiter mit dem
Bettler vergleiche: ſo muß ich geſtehen, daß es eine uͤberaus
ſtarke Verſuchung ſey lieber zu betteln als zu arbeiten. Das
einzige was den Bettlern bishero gefehlt, iſt dieſes, daß ihre
Nahrung unruͤhmlich geweſen, und dieſen Fehler will ich
nechſtens abhelfen.



XI.
E 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0091" n="73"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Das Glu&#x0364;ck der Bettler.</hi></fw><lb/>
&#x017F;ich unge&#x017F;cheut wo es ihm juckt; nimmt &#x017F;ich ein Weib und<lb/>
&#x017F;cheidet &#x017F;ich davon unentgeltlich und ohne Proceß; zeugt Kin-<lb/>
der ohne a&#x0364;ng&#x017F;tliche Rechnung, wie er &#x017F;ie ver&#x017F;orgen will; wohnt<lb/>
und rei&#x017F;et &#x017F;icher vor Diebe, findet jede Herberge bequem, und<lb/>
u&#x0364;berall Brod; leidet nichts im Kriege oder von betriegeri&#x017F;chen<lb/>
Freunden; trotzt dem gro&#x0364;ßten Herrn, und i&#x017F;t der ganzen<lb/>
Welt Bu&#x0364;rger. Alles was ihm dem An&#x017F;chein nach fehlt, i&#x017F;t<lb/>
die Delicate&#x017F;&#x017F;e, oder derjenige za&#x0364;rtliche Eckel, womit wir al-<lb/>
les, was nicht gut aus&#x017F;ieht, ver&#x017F;chma&#x0364;hen. Allein, wer i&#x017F;t<lb/>
im Grunde der Glu&#x0364;cklich&#x017F;te; der Mann, der ein Stu&#x0364;ck Brod,<lb/>
wenn es gleich &#x017F;andig i&#x017F;t, vergnu&#x0364;gt herunter &#x017F;chlucken kann;<lb/>
oder der Za&#x0364;rtling, der in allen Herbergen hungern muß, weil<lb/>
er &#x017F;einen Mundkoch nicht bey &#x017F;ich hat? Und wie &#x017F;ehr erwei-<lb/>
tert derjenige nicht die Spha&#x0364;re &#x017F;eines Vergnu&#x0364;gens, der &#x017F;ich<lb/>
jedes Brod wohl &#x017F;chmecken la&#x0364;ßt?</p><lb/>
        <p>Wie be&#x017F;chwerlich i&#x017F;t dagegen der Zu&#x017F;tand des fleißigen<lb/>
Arbeiters, der &#x017F;ich von dem Morgen bis zum Abend qua&#x0364;let,<lb/>
&#x017F;ich und &#x017F;eine Familie von eignem Schwei&#x017F;&#x017F;e zu erna&#x0364;hren? Alle<lb/>
o&#x0364;ffentliche La&#x017F;ten fallen auf ihn. Bey jedem Ueberfall feind-<lb/>
licher Partheyen muß er zittern. Um &#x017F;ich in dem no&#x0364;thigen<lb/>
An&#x017F;ehen und Credit zu erhalten, muß er oft Wa&#x017F;&#x017F;er und Brod<lb/>
e&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;eine Na&#x0364;chte mit a&#x0364;ng&#x017F;tlicher Sorge zubringen, und eine<lb/>
heimliche Thra&#x0364;ne nach der andern vergie&#x017F;&#x017F;en ..... Wenn<lb/>
ich &#x017F;olcherge&#x017F;talt den ehrlichen fleißigen Arbeiter mit dem<lb/>
Bettler vergleiche: &#x017F;o muß ich ge&#x017F;tehen, daß es eine u&#x0364;beraus<lb/>
&#x017F;tarke Ver&#x017F;uchung &#x017F;ey lieber zu betteln als zu arbeiten. Das<lb/>
einzige was den Bettlern bishero gefehlt, i&#x017F;t die&#x017F;es, daß ihre<lb/>
Nahrung unru&#x0364;hmlich gewe&#x017F;en, und die&#x017F;en Fehler will ich<lb/>
nech&#x017F;tens abhelfen.</p>
      </div><lb/>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
      <fw place="bottom" type="sig">E 5</fw>
      <fw place="bottom" type="catch"> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#aq">XI.</hi> </hi> </fw><lb/>
    </body>
  </text>
</TEI>
[73/0091] Das Gluͤck der Bettler. ſich ungeſcheut wo es ihm juckt; nimmt ſich ein Weib und ſcheidet ſich davon unentgeltlich und ohne Proceß; zeugt Kin- der ohne aͤngſtliche Rechnung, wie er ſie verſorgen will; wohnt und reiſet ſicher vor Diebe, findet jede Herberge bequem, und uͤberall Brod; leidet nichts im Kriege oder von betriegeriſchen Freunden; trotzt dem groͤßten Herrn, und iſt der ganzen Welt Buͤrger. Alles was ihm dem Anſchein nach fehlt, iſt die Delicateſſe, oder derjenige zaͤrtliche Eckel, womit wir al- les, was nicht gut ausſieht, verſchmaͤhen. Allein, wer iſt im Grunde der Gluͤcklichſte; der Mann, der ein Stuͤck Brod, wenn es gleich ſandig iſt, vergnuͤgt herunter ſchlucken kann; oder der Zaͤrtling, der in allen Herbergen hungern muß, weil er ſeinen Mundkoch nicht bey ſich hat? Und wie ſehr erwei- tert derjenige nicht die Sphaͤre ſeines Vergnuͤgens, der ſich jedes Brod wohl ſchmecken laͤßt? Wie beſchwerlich iſt dagegen der Zuſtand des fleißigen Arbeiters, der ſich von dem Morgen bis zum Abend quaͤlet, ſich und ſeine Familie von eignem Schweiſſe zu ernaͤhren? Alle oͤffentliche Laſten fallen auf ihn. Bey jedem Ueberfall feind- licher Partheyen muß er zittern. Um ſich in dem noͤthigen Anſehen und Credit zu erhalten, muß er oft Waſſer und Brod eſſen, ſeine Naͤchte mit aͤngſtlicher Sorge zubringen, und eine heimliche Thraͤne nach der andern vergieſſen ..... Wenn ich ſolchergeſtalt den ehrlichen fleißigen Arbeiter mit dem Bettler vergleiche: ſo muß ich geſtehen, daß es eine uͤberaus ſtarke Verſuchung ſey lieber zu betteln als zu arbeiten. Das einzige was den Bettlern bishero gefehlt, iſt dieſes, daß ihre Nahrung unruͤhmlich geweſen, und dieſen Fehler will ich nechſtens abhelfen. XI. E 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien01_1775
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien01_1775/91
Zitationshilfe: Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 1. Berlin, 1775, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien01_1775/91>, abgerufen am 24.11.2024.