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Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 2. Berlin, 1776.

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Vom Kerbstocke.


XXXVII.
Vom Kerbstocke.

Daß unsre Vorfahren kluge Köpfe gewesen, beweiset allein
der Kerbstock. Keine Erfindung ist simpler und grös-
ser wie diese. Die Italiener mögen sich mit ihrer Kunst Buch
zu halten, noch so groß dünken: so geht sie doch immer dahin,
daß einer den andern zum Schuldner schreiben kan; daß der
Mann, der borgt, von seines Gläubigers Redlichkeit oder
Willkühr abhängt, anstatt, daß beym Kerbstock Schuldner
und Gläubiger gleiche Versicherung haben, sich beständig kon-
trolliren und einander nicht betriegen können.

Was wird häufiger geschworen als Eide über Handlungs-
bücher, besonders, nachdem auch sogar Handwerker zugelas-
sen wurden, Buch zu halten und ihre Rechnungen zu beschwö-
ren? Wie mancher Kaufmann hat nicht oft das Seinige ver-
lohren oder dem andern aus Irrthum oder Vorsatz zu viel ge-
than, nachdem er sich ein oder kein Gewissen daraus gemacht,
alles dasjenige zu beschwören, was seine Ladendiener oder
Jungen, oder wohl gar eine Frau oder Magd zu Buche ge-
bracht haben! Wie mancher kostbarer Proceß ist nicht darüber
geführet, ob und wenn der Bestärkungseid in solchen Fällen
zuzulassen? Alles dieses hatten unsre Vorfahren beym Kerb-
stocke nicht zu fürchten.

Insgemein glaubt man jetzt, der Kerbstock habe nur ge-
dient, um Rechnung über Milch, Bier, Brodt und andre
Sachen, welche ein gewisses feststehendes Maas haben, zu
führen. Allein dieses ist irrig. Der Kerbstock war das
älteste Dienst- und Pachtregister, und nichts ist leichter, als

sol-
Vom Kerbſtocke.


XXXVII.
Vom Kerbſtocke.

Daß unſre Vorfahren kluge Koͤpfe geweſen, beweiſet allein
der Kerbſtock. Keine Erfindung iſt ſimpler und groͤſ-
ſer wie dieſe. Die Italiener moͤgen ſich mit ihrer Kunſt Buch
zu halten, noch ſo groß duͤnken: ſo geht ſie doch immer dahin,
daß einer den andern zum Schuldner ſchreiben kan; daß der
Mann, der borgt, von ſeines Glaͤubigers Redlichkeit oder
Willkuͤhr abhaͤngt, anſtatt, daß beym Kerbſtock Schuldner
und Glaͤubiger gleiche Verſicherung haben, ſich beſtaͤndig kon-
trolliren und einander nicht betriegen koͤnnen.

Was wird haͤufiger geſchworen als Eide uͤber Handlungs-
buͤcher, beſonders, nachdem auch ſogar Handwerker zugelaſ-
ſen wurden, Buch zu halten und ihre Rechnungen zu beſchwoͤ-
ren? Wie mancher Kaufmann hat nicht oft das Seinige ver-
lohren oder dem andern aus Irrthum oder Vorſatz zu viel ge-
than, nachdem er ſich ein oder kein Gewiſſen daraus gemacht,
alles dasjenige zu beſchwoͤren, was ſeine Ladendiener oder
Jungen, oder wohl gar eine Frau oder Magd zu Buche ge-
bracht haben! Wie mancher koſtbarer Proceß iſt nicht daruͤber
gefuͤhret, ob und wenn der Beſtaͤrkungseid in ſolchen Faͤllen
zuzulaſſen? Alles dieſes hatten unſre Vorfahren beym Kerb-
ſtocke nicht zu fuͤrchten.

Insgemein glaubt man jetzt, der Kerbſtock habe nur ge-
dient, um Rechnung uͤber Milch, Bier, Brodt und andre
Sachen, welche ein gewiſſes feſtſtehendes Maas haben, zu
fuͤhren. Allein dieſes iſt irrig. Der Kerbſtock war das
aͤlteſte Dienſt- und Pachtregiſter, und nichts iſt leichter, als

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[271/0289] Vom Kerbſtocke. XXXVII. Vom Kerbſtocke. Daß unſre Vorfahren kluge Koͤpfe geweſen, beweiſet allein der Kerbſtock. Keine Erfindung iſt ſimpler und groͤſ- ſer wie dieſe. Die Italiener moͤgen ſich mit ihrer Kunſt Buch zu halten, noch ſo groß duͤnken: ſo geht ſie doch immer dahin, daß einer den andern zum Schuldner ſchreiben kan; daß der Mann, der borgt, von ſeines Glaͤubigers Redlichkeit oder Willkuͤhr abhaͤngt, anſtatt, daß beym Kerbſtock Schuldner und Glaͤubiger gleiche Verſicherung haben, ſich beſtaͤndig kon- trolliren und einander nicht betriegen koͤnnen. Was wird haͤufiger geſchworen als Eide uͤber Handlungs- buͤcher, beſonders, nachdem auch ſogar Handwerker zugelaſ- ſen wurden, Buch zu halten und ihre Rechnungen zu beſchwoͤ- ren? Wie mancher Kaufmann hat nicht oft das Seinige ver- lohren oder dem andern aus Irrthum oder Vorſatz zu viel ge- than, nachdem er ſich ein oder kein Gewiſſen daraus gemacht, alles dasjenige zu beſchwoͤren, was ſeine Ladendiener oder Jungen, oder wohl gar eine Frau oder Magd zu Buche ge- bracht haben! Wie mancher koſtbarer Proceß iſt nicht daruͤber gefuͤhret, ob und wenn der Beſtaͤrkungseid in ſolchen Faͤllen zuzulaſſen? Alles dieſes hatten unſre Vorfahren beym Kerb- ſtocke nicht zu fuͤrchten. Insgemein glaubt man jetzt, der Kerbſtock habe nur ge- dient, um Rechnung uͤber Milch, Bier, Brodt und andre Sachen, welche ein gewiſſes feſtſtehendes Maas haben, zu fuͤhren. Allein dieſes iſt irrig. Der Kerbſtock war das aͤlteſte Dienſt- und Pachtregiſter, und nichts iſt leichter, als ſol-

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Zitationshilfe: Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 2. Berlin, 1776, S. 271. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien02_1776/289>, abgerufen am 22.11.2024.