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Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 2. Berlin, 1776.

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der alten deutschen Criminaljurisdiction.
Auf diese Weise zeigten sich plötzlich zwey ganz unterschiedene
Reichsblutrichter, der eine oder der ordentliche zum Leben, und
der andre oder der ausserordentliche zum Tode. Was mich hiebey
am mehrsten freuete, war dieses, daß auf einmal das regale
et saeculare judicium,
was der Kayser den Bischöfen über
ihre Leute verliehen, ein höchstes Gericht, aber nicht zum
Blutvergießen, sondern zur Erhaltung des Verbrechers ge-
wesen, und daß alle die Kritiken, welche darüber, daß die
Kirche Blutgerichte angenommen hätte, gemachet worden,
auf einmal zersielen, und weiter nichts bewiesen, als daß die
guten Leute das Costume der Carolingischen Zeiten nicht ver-
standen hatten.

Nun dachte ich, die Deutschen haben vordem wohl Sen-
deboten
(Missos) und Sendebriefe oder Sendschreiben (Mis-
sivas)
gesagt: sollten sie denn nicht auch wohl die kayserlichen
Missos, wozu insgemein Grafen genommen wurden, Send-
grafen
, folgends die Missatica oder den Nuntiaturdistrict
Sendgrasschaft geheissen haben? Nichts schien mir wahr-
scheinlicher zu seyn als dieses, und so kam ich ganz natürlicher
Weise dahin, diese Voraussetzung zu wagen, daß der Graf
(Comes) der ordentliche Richter zur Erhaltung, der Send-
graf (Missus) hingegen der ausserordentliche Richter zu Haut
und Haar gewesen. Ich las hierauf die Capitularien mit
Aufmerksamkeit ganz durch und fühlte, daß ich alles, was
mir im Wege stand, ganz schicklich erklären konnte; mehr
braucht es nicht, um mich in meiner Vermuthung zu bestärken.
Die bekannte Stelle: In placito Centenarii nemo ad mor-
tem neque ad libertatem suam amittendam aut ad res red-
dendas vel mancipia condemnetur. Sed ista in praesentia
comitis (scilicet si actio civilis ad compositionem pecu-
niariam instituta fuerit) vel missorum nostrorum (scilicet
si ad poenam criminalem agitur) remittantur
schien mir

durch
G g 4

der alten deutſchen Criminaljurisdiction.
Auf dieſe Weiſe zeigten ſich ploͤtzlich zwey ganz unterſchiedene
Reichsblutrichter, der eine oder der ordentliche zum Leben, und
der andre oder der auſſerordentliche zum Tode. Was mich hiebey
am mehrſten freuete, war dieſes, daß auf einmal das regale
et ſaeculare judicium,
was der Kayſer den Biſchoͤfen uͤber
ihre Leute verliehen, ein hoͤchſtes Gericht, aber nicht zum
Blutvergießen, ſondern zur Erhaltung des Verbrechers ge-
weſen, und daß alle die Kritiken, welche daruͤber, daß die
Kirche Blutgerichte angenommen haͤtte, gemachet worden,
auf einmal zerſielen, und weiter nichts bewieſen, als daß die
guten Leute das Coſtume der Carolingiſchen Zeiten nicht ver-
ſtanden hatten.

Nun dachte ich, die Deutſchen haben vordem wohl Sen-
deboten
(Miſſos) und Sendebriefe oder Sendſchreiben (Miſ-
ſivas)
geſagt: ſollten ſie denn nicht auch wohl die kayſerlichen
Miſſos, wozu insgemein Grafen genommen wurden, Send-
grafen
, folgends die Miſſatica oder den Nuntiaturdiſtrict
Sendgraſſchaft geheiſſen haben? Nichts ſchien mir wahr-
ſcheinlicher zu ſeyn als dieſes, und ſo kam ich ganz natuͤrlicher
Weiſe dahin, dieſe Vorausſetzung zu wagen, daß der Graf
(Comes) der ordentliche Richter zur Erhaltung, der Send-
graf (Miſſus) hingegen der auſſerordentliche Richter zu Haut
und Haar geweſen. Ich las hierauf die Capitularien mit
Aufmerkſamkeit ganz durch und fuͤhlte, daß ich alles, was
mir im Wege ſtand, ganz ſchicklich erklaͤren konnte; mehr
braucht es nicht, um mich in meiner Vermuthung zu beſtaͤrken.
Die bekannte Stelle: In placito Centenarii nemo ad mor-
tem neque ad libertatem ſuam amittendam aut ad res red-
dendas vel mancipia condemnetur. Sed iſta in praeſentia
comitis (ſcilicet ſi actio civilis ad compoſitionem pecu-
niariam inſtituta fuerit) vel miſſorum noſtrorum (ſcilicet
ſi ad poenam criminalem agitur) remittantur
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[471/0489] der alten deutſchen Criminaljurisdiction. Auf dieſe Weiſe zeigten ſich ploͤtzlich zwey ganz unterſchiedene Reichsblutrichter, der eine oder der ordentliche zum Leben, und der andre oder der auſſerordentliche zum Tode. Was mich hiebey am mehrſten freuete, war dieſes, daß auf einmal das regale et ſaeculare judicium, was der Kayſer den Biſchoͤfen uͤber ihre Leute verliehen, ein hoͤchſtes Gericht, aber nicht zum Blutvergießen, ſondern zur Erhaltung des Verbrechers ge- weſen, und daß alle die Kritiken, welche daruͤber, daß die Kirche Blutgerichte angenommen haͤtte, gemachet worden, auf einmal zerſielen, und weiter nichts bewieſen, als daß die guten Leute das Coſtume der Carolingiſchen Zeiten nicht ver- ſtanden hatten. Nun dachte ich, die Deutſchen haben vordem wohl Sen- deboten (Miſſos) und Sendebriefe oder Sendſchreiben (Miſ- ſivas) geſagt: ſollten ſie denn nicht auch wohl die kayſerlichen Miſſos, wozu insgemein Grafen genommen wurden, Send- grafen, folgends die Miſſatica oder den Nuntiaturdiſtrict Sendgraſſchaft geheiſſen haben? Nichts ſchien mir wahr- ſcheinlicher zu ſeyn als dieſes, und ſo kam ich ganz natuͤrlicher Weiſe dahin, dieſe Vorausſetzung zu wagen, daß der Graf (Comes) der ordentliche Richter zur Erhaltung, der Send- graf (Miſſus) hingegen der auſſerordentliche Richter zu Haut und Haar geweſen. Ich las hierauf die Capitularien mit Aufmerkſamkeit ganz durch und fuͤhlte, daß ich alles, was mir im Wege ſtand, ganz ſchicklich erklaͤren konnte; mehr braucht es nicht, um mich in meiner Vermuthung zu beſtaͤrken. Die bekannte Stelle: In placito Centenarii nemo ad mor- tem neque ad libertatem ſuam amittendam aut ad res red- dendas vel mancipia condemnetur. Sed iſta in praeſentia comitis (ſcilicet ſi actio civilis ad compoſitionem pecu- niariam inſtituta fuerit) vel miſſorum noſtrorum (ſcilicet ſi ad poenam criminalem agitur) remittantur ſchien mir durch G g 4

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Zitationshilfe: Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 2. Berlin, 1776, S. 471. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien02_1776/489>, abgerufen am 22.11.2024.