Die Mode dient einem Krämer oft eine alte Waare an den Mann zu bringen. Mit dieser kleinen Ent- schuldigung sey es mir erlaubt, ein altes westphälisches Minnelied, welches ich unlängst auf dem pergamenen Umschlage eines alten Registers entdeckt habe, dem Publi- cum mitzutheilen. Denn daß jetzt die Mode der Minne- lieder die Bardengesänge in Deutschland verdrungen haben, wird jedem bekannt seyn, ob es gleich nicht so bekannt seyn mag, daß unsre neuen Minnesänger eben nicht die Zeit er- wählet haben, wo ihnen die Sitte der Nation, das hohe Gefühl der Liebe und der Rittergeist die Vortheile verschaf- fen wird, welche diese vereinten Umstände den alten Minne- singern zu Anfang des dreyzehnten Jahrhunderts darboten.
Die Handschrift, woraus ich dieses Lied mittheile, ist aus dem dreyzehnten Jahrhundert, und das Blatt worauf es steht, hat zu einer Sammlung von Minneliedern ge- hört, welche von der Maneßischen, die sich in der Königl. Französischen Bibliothek No. 7266 befindet, und bisher für die einzige in der Welt gehalten worden, ganz unter- schieden ist. Ein Kenner wird gleich fühlen, daß es aus dem ächten Zeitalter der deutschen Poesie sey, und ver- muthlich ist es das einzige alte Lied das wir von einem westphälischen Minnedichter noch übrig haben. Er verräth sich durch gewisse Eigenheiten eben so wie Heinrich von Vel- dig, den man an dem Verse La mich wesen dyn und bis du myn für einen Niedersachsen erkennet.
Twi-
LV. Ein weſtphaͤliſches Minnelied.
Die Mode dient einem Kraͤmer oft eine alte Waare an den Mann zu bringen. Mit dieſer kleinen Ent- ſchuldigung ſey es mir erlaubt, ein altes weſtphaͤliſches Minnelied, welches ich unlaͤngſt auf dem pergamenen Umſchlage eines alten Regiſters entdeckt habe, dem Publi- cum mitzutheilen. Denn daß jetzt die Mode der Minne- lieder die Bardengeſaͤnge in Deutſchland verdrungen haben, wird jedem bekannt ſeyn, ob es gleich nicht ſo bekannt ſeyn mag, daß unſre neuen Minneſaͤnger eben nicht die Zeit er- waͤhlet haben, wo ihnen die Sitte der Nation, das hohe Gefuͤhl der Liebe und der Rittergeiſt die Vortheile verſchaf- fen wird, welche dieſe vereinten Umſtaͤnde den alten Minne- ſingern zu Anfang des dreyzehnten Jahrhunderts darboten.
Die Handſchrift, woraus ich dieſes Lied mittheile, iſt aus dem dreyzehnten Jahrhundert, und das Blatt worauf es ſteht, hat zu einer Sammlung von Minneliedern ge- hoͤrt, welche von der Maneßiſchen, die ſich in der Koͤnigl. Franzoͤſiſchen Bibliothek No. 7266 befindet, und bisher fuͤr die einzige in der Welt gehalten worden, ganz unter- ſchieden iſt. Ein Kenner wird gleich fuͤhlen, daß es aus dem aͤchten Zeitalter der deutſchen Poeſie ſey, und ver- muthlich iſt es das einzige alte Lied das wir von einem weſtphaͤliſchen Minnedichter noch uͤbrig haben. Er verraͤth ſich durch gewiſſe Eigenheiten eben ſo wie Heinrich von Vel- dig, den man an dem Verſe La mich weſen dyn und bis du myn fuͤr einen Niederſachſen erkennet.
Twi-
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LV.
Ein weſtphaͤliſches Minnelied.
Die Mode dient einem Kraͤmer oft eine alte Waare an
den Mann zu bringen. Mit dieſer kleinen Ent-
ſchuldigung ſey es mir erlaubt, ein altes weſtphaͤliſches
Minnelied, welches ich unlaͤngſt auf dem pergamenen
Umſchlage eines alten Regiſters entdeckt habe, dem Publi-
cum mitzutheilen. Denn daß jetzt die Mode der Minne-
lieder die Bardengeſaͤnge in Deutſchland verdrungen haben,
wird jedem bekannt ſeyn, ob es gleich nicht ſo bekannt ſeyn
mag, daß unſre neuen Minneſaͤnger eben nicht die Zeit er-
waͤhlet haben, wo ihnen die Sitte der Nation, das hohe
Gefuͤhl der Liebe und der Rittergeiſt die Vortheile verſchaf-
fen wird, welche dieſe vereinten Umſtaͤnde den alten Minne-
ſingern zu Anfang des dreyzehnten Jahrhunderts darboten.
Die Handſchrift, woraus ich dieſes Lied mittheile, iſt
aus dem dreyzehnten Jahrhundert, und das Blatt worauf
es ſteht, hat zu einer Sammlung von Minneliedern ge-
hoͤrt, welche von der Maneßiſchen, die ſich in der Koͤnigl.
Franzoͤſiſchen Bibliothek No. 7266 befindet, und bisher
fuͤr die einzige in der Welt gehalten worden, ganz unter-
ſchieden iſt. Ein Kenner wird gleich fuͤhlen, daß es aus
dem aͤchten Zeitalter der deutſchen Poeſie ſey, und ver-
muthlich iſt es das einzige alte Lied das wir von einem
weſtphaͤliſchen Minnedichter noch uͤbrig haben. Er verraͤth
ſich durch gewiſſe Eigenheiten eben ſo wie Heinrich von Vel-
dig, den man an dem Verſe
La mich weſen dyn und bis du myn
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Für das DTA wurde die „Neue verbesserte und verme… [mehr]
Für das DTA wurde die „Neue verbesserte und vermehrte Auflage“ des 3. Teils von Justus Mösers „Patriotischen Phantasien“ zur Digitalisierung ausgewählt. Sie erschien 1778, also im selben Jahr wie die Erstauflage dieses Bandes, und ist bis S. 260 seitenidentisch mit dieser. Die Abschnitte LX („Gedanken über den westphälischen Leibeigenthum“) bis LXVIII („Gedanken über den Stillestand der Leibeignen“) sind Ergänzungen gegenüber der ersten Auflage.
Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, 1778, S. 240. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien03_1778/254>, abgerufen am 28.11.2024.
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