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Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, 1778.

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Die Politik im Unglück.
dienter mir Platz gemacht hatte, preßte sich eine wahrlich
recht bittere Zähre aus meinen Augen, so heißtrocken sie
auch waren. Im hingehen durch die Kirche zogen sie sich
fest zu, und wie ich mich gesetzt und gebetet hatte, muste
ich die Augenlieder mit dem Finger unvermerkt ein bisgen
in die Höhe schieben, weil sie nicht aufgehen wollten; und
ich konnte sie nicht wenden, ohne überall einem spöttischen
oder neugierigen Blicke zu begegnen. Unter diesem drücken-
den und schadenfrohen Anschauen habe ich wohl zehn Sonn-
tage zubringen müssen, ehe die hämische Neugier sich all-
mählig zu einer mitleidigen Bescheidenheit gewöhnen wollte.
Aber doch war diese Empfindung noch nichts gegen dasje-
nige, was ich bey der grausamen Barmherzigkeit meines
Oheims empfand. Sie wissen, mein Kind, das nur acht
Wochen alt war als mich das Unglück traf, starb während
dem ersten Schrecken; und ich hatte es selbst gesäugt, weil
es eben damals Mode war, und die Prinzeßin von ....
sich dieser mütterlichen Pflicht unterzogen hatte. Mein
Oheim ließ mich so gleich rufen, und fragte mich ohne wei-
tere Umstände, wie es mit der Milch stünde, und ob ich
wohl das Kind der Amtmannin zu ..... die eben in den
Wochen gestorben war, annehmen wollte; ich würde dort,
fügte er, ohne meine Antwort zu erwarten, hinzu, gut ge-
halten werden, den Leuten hier aus den Mäulern kommen,
und die Kost besser haben, als ich sie mir mit meiner Hän-
de Arbeit würde verschaffen können; meine beyden Kinder
wollte er indessen unterzubringen suchen ..... Sie kön-
nen denken, wie mir hiebey zu Muthe war, und was es
mir kostete, einem jungen naseweisen Arzte, den mein Oheim
hatte rufen lassen, und der mir als einer künftigen Amme
allerhand Fragen that, nicht eine Grobheit zu sagen. Zu
meinem Glücke erstarben mir die Worte im Munde, ich
fieng an zu schluchsen, meine Beine wollten mich nicht hal-

ten,

Die Politik im Ungluͤck.
dienter mir Platz gemacht hatte, preßte ſich eine wahrlich
recht bittere Zaͤhre aus meinen Augen, ſo heißtrocken ſie
auch waren. Im hingehen durch die Kirche zogen ſie ſich
feſt zu, und wie ich mich geſetzt und gebetet hatte, muſte
ich die Augenlieder mit dem Finger unvermerkt ein bisgen
in die Hoͤhe ſchieben, weil ſie nicht aufgehen wollten; und
ich konnte ſie nicht wenden, ohne uͤberall einem ſpoͤttiſchen
oder neugierigen Blicke zu begegnen. Unter dieſem druͤcken-
den und ſchadenfrohen Anſchauen habe ich wohl zehn Sonn-
tage zubringen muͤſſen, ehe die haͤmiſche Neugier ſich all-
maͤhlig zu einer mitleidigen Beſcheidenheit gewoͤhnen wollte.
Aber doch war dieſe Empfindung noch nichts gegen dasje-
nige, was ich bey der grauſamen Barmherzigkeit meines
Oheims empfand. Sie wiſſen, mein Kind, das nur acht
Wochen alt war als mich das Ungluͤck traf, ſtarb waͤhrend
dem erſten Schrecken; und ich hatte es ſelbſt geſaͤugt, weil
es eben damals Mode war, und die Prinzeßin von ....
ſich dieſer muͤtterlichen Pflicht unterzogen hatte. Mein
Oheim ließ mich ſo gleich rufen, und fragte mich ohne wei-
tere Umſtaͤnde, wie es mit der Milch ſtuͤnde, und ob ich
wohl das Kind der Amtmannin zu ..... die eben in den
Wochen geſtorben war, annehmen wollte; ich wuͤrde dort,
fuͤgte er, ohne meine Antwort zu erwarten, hinzu, gut ge-
halten werden, den Leuten hier aus den Maͤulern kommen,
und die Koſt beſſer haben, als ich ſie mir mit meiner Haͤn-
de Arbeit wuͤrde verſchaffen koͤnnen; meine beyden Kinder
wollte er indeſſen unterzubringen ſuchen ..... Sie koͤn-
nen denken, wie mir hiebey zu Muthe war, und was es
mir koſtete, einem jungen naſeweiſen Arzte, den mein Oheim
hatte rufen laſſen, und der mir als einer kuͤnftigen Amme
allerhand Fragen that, nicht eine Grobheit zu ſagen. Zu
meinem Gluͤcke erſtarben mir die Worte im Munde, ich
fieng an zu ſchluchſen, meine Beine wollten mich nicht hal-

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[32/0046] Die Politik im Ungluͤck. dienter mir Platz gemacht hatte, preßte ſich eine wahrlich recht bittere Zaͤhre aus meinen Augen, ſo heißtrocken ſie auch waren. Im hingehen durch die Kirche zogen ſie ſich feſt zu, und wie ich mich geſetzt und gebetet hatte, muſte ich die Augenlieder mit dem Finger unvermerkt ein bisgen in die Hoͤhe ſchieben, weil ſie nicht aufgehen wollten; und ich konnte ſie nicht wenden, ohne uͤberall einem ſpoͤttiſchen oder neugierigen Blicke zu begegnen. Unter dieſem druͤcken- den und ſchadenfrohen Anſchauen habe ich wohl zehn Sonn- tage zubringen muͤſſen, ehe die haͤmiſche Neugier ſich all- maͤhlig zu einer mitleidigen Beſcheidenheit gewoͤhnen wollte. Aber doch war dieſe Empfindung noch nichts gegen dasje- nige, was ich bey der grauſamen Barmherzigkeit meines Oheims empfand. Sie wiſſen, mein Kind, das nur acht Wochen alt war als mich das Ungluͤck traf, ſtarb waͤhrend dem erſten Schrecken; und ich hatte es ſelbſt geſaͤugt, weil es eben damals Mode war, und die Prinzeßin von .... ſich dieſer muͤtterlichen Pflicht unterzogen hatte. Mein Oheim ließ mich ſo gleich rufen, und fragte mich ohne wei- tere Umſtaͤnde, wie es mit der Milch ſtuͤnde, und ob ich wohl das Kind der Amtmannin zu ..... die eben in den Wochen geſtorben war, annehmen wollte; ich wuͤrde dort, fuͤgte er, ohne meine Antwort zu erwarten, hinzu, gut ge- halten werden, den Leuten hier aus den Maͤulern kommen, und die Koſt beſſer haben, als ich ſie mir mit meiner Haͤn- de Arbeit wuͤrde verſchaffen koͤnnen; meine beyden Kinder wollte er indeſſen unterzubringen ſuchen ..... Sie koͤn- nen denken, wie mir hiebey zu Muthe war, und was es mir koſtete, einem jungen naſeweiſen Arzte, den mein Oheim hatte rufen laſſen, und der mir als einer kuͤnftigen Amme allerhand Fragen that, nicht eine Grobheit zu ſagen. Zu meinem Gluͤcke erſtarben mir die Worte im Munde, ich fieng an zu ſchluchſen, meine Beine wollten mich nicht hal- ten,

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Zitationshilfe: Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, 1778, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien03_1778/46>, abgerufen am 21.11.2024.