Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, 1778.

Bild:
<< vorherige Seite

Sollte nicht in jedem Staate
gerechtigkeit in ihrer Geburt erstickt. Viele begnügen sich
damit ein so genanntes rechtliches Bedenken einzuholen,
und ihr Gewissen darnach zu stimmen, ohne zu überlegen,
daß sie auf diese Weise ihren Beichtvater selbst gewählt,
vielleicht nicht den strengsten genommen, vielleicht manchen
kleinen Umstand verschwiegen, und so nach ihre Absolution
erschlichen haben. Andre tragen ihre Gewissensscrupel, zu
deren Auflösung oft die größte Kenntniß der Rechte erfor-
dert wird, so gar einem Theologen vor, und dieser der
blos nach der gesunden Vernunft und demjenigen was ihm
christlich, billig und recht scheint, urtheilet, spricht einen
Zweifelnden los, der doch den Rechten nach verdammet
werden sollte. Noch andre folgen ihrem eignen Urtheil
und einem gewissen innerlichen Gefühle, was doch oft bey
gesunden Tagen, und in der Hitze der Leidenschaft nicht so
ausfällt, wie es zur andern Zeit ausfallen würde. Und
überall schleicht sich der Selbstbetrug, worauf zuletzt eine
späte Reue folgt, mit ein, wie nicht geschehen würde, wenn
man sich bey einem ordentlich dazu angesetzten Gewissens-
rath mit seinen Zweifeln melden, und von demselben eine
gewissenhafte Auflösung fordern könnte. Irrte ein solcher
Rath: so behielte man doch immer die Beruhigung in sei-
nem Gewissen, daß man einen gesetzmäßigen Weg einge-
schlagen wäre, und sich, wenn man demselben nichts ver-
schwiegen, auch nichts vorzuwerfen hätte.

Ich befinde mich jetzt in einem Falle, wo mir ein sol-
cher Rath besonders nöthig ist. Ich habe eine Forderung
an einen verstorbenen Mann, über dessen Güter jetzt ein
Concurs entstanden. Diese Forderung besteht ursprüng-
lich aus Erbgeldern, womit ich allen andern Gläubigern
vorgehen würde. Ich habe aber später eine gemeine Ver-
schreibung darauf genommen, womit ich allen andern nach-
stehen werde. Beziehe ich mich lediglich auf mein Erb-

gelds-

Sollte nicht in jedem Staate
gerechtigkeit in ihrer Geburt erſtickt. Viele begnuͤgen ſich
damit ein ſo genanntes rechtliches Bedenken einzuholen,
und ihr Gewiſſen darnach zu ſtimmen, ohne zu uͤberlegen,
daß ſie auf dieſe Weiſe ihren Beichtvater ſelbſt gewaͤhlt,
vielleicht nicht den ſtrengſten genommen, vielleicht manchen
kleinen Umſtand verſchwiegen, und ſo nach ihre Abſolution
erſchlichen haben. Andre tragen ihre Gewiſſensſcrupel, zu
deren Aufloͤſung oft die groͤßte Kenntniß der Rechte erfor-
dert wird, ſo gar einem Theologen vor, und dieſer der
blos nach der geſunden Vernunft und demjenigen was ihm
chriſtlich, billig und recht ſcheint, urtheilet, ſpricht einen
Zweifelnden los, der doch den Rechten nach verdammet
werden ſollte. Noch andre folgen ihrem eignen Urtheil
und einem gewiſſen innerlichen Gefuͤhle, was doch oft bey
geſunden Tagen, und in der Hitze der Leidenſchaft nicht ſo
ausfaͤllt, wie es zur andern Zeit ausfallen wuͤrde. Und
uͤberall ſchleicht ſich der Selbſtbetrug, worauf zuletzt eine
ſpaͤte Reue folgt, mit ein, wie nicht geſchehen wuͤrde, wenn
man ſich bey einem ordentlich dazu angeſetzten Gewiſſens-
rath mit ſeinen Zweifeln melden, und von demſelben eine
gewiſſenhafte Aufloͤſung fordern koͤnnte. Irrte ein ſolcher
Rath: ſo behielte man doch immer die Beruhigung in ſei-
nem Gewiſſen, daß man einen geſetzmaͤßigen Weg einge-
ſchlagen waͤre, und ſich, wenn man demſelben nichts ver-
ſchwiegen, auch nichts vorzuwerfen haͤtte.

Ich befinde mich jetzt in einem Falle, wo mir ein ſol-
cher Rath beſonders noͤthig iſt. Ich habe eine Forderung
an einen verſtorbenen Mann, uͤber deſſen Guͤter jetzt ein
Concurs entſtanden. Dieſe Forderung beſteht urſpruͤng-
lich aus Erbgeldern, womit ich allen andern Glaͤubigern
vorgehen wuͤrde. Ich habe aber ſpaͤter eine gemeine Ver-
ſchreibung darauf genommen, womit ich allen andern nach-
ſtehen werde. Beziehe ich mich lediglich auf mein Erb-

gelds-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0078" n="64"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Sollte nicht in jedem Staate</hi></fw><lb/>
gerechtigkeit in ihrer Geburt er&#x017F;tickt. Viele begnu&#x0364;gen &#x017F;ich<lb/>
damit ein &#x017F;o genanntes rechtliches Bedenken einzuholen,<lb/>
und ihr Gewi&#x017F;&#x017F;en darnach zu &#x017F;timmen, ohne zu u&#x0364;berlegen,<lb/>
daß &#x017F;ie auf die&#x017F;e Wei&#x017F;e ihren Beichtvater &#x017F;elb&#x017F;t gewa&#x0364;hlt,<lb/>
vielleicht nicht den &#x017F;treng&#x017F;ten genommen, vielleicht manchen<lb/>
kleinen Um&#x017F;tand ver&#x017F;chwiegen, und &#x017F;o nach ihre Ab&#x017F;olution<lb/>
er&#x017F;chlichen haben. Andre tragen ihre Gewi&#x017F;&#x017F;ens&#x017F;crupel, zu<lb/>
deren Auflo&#x0364;&#x017F;ung oft die gro&#x0364;ßte Kenntniß der Rechte erfor-<lb/>
dert wird, &#x017F;o gar einem Theologen vor, und die&#x017F;er der<lb/>
blos nach der ge&#x017F;unden Vernunft und demjenigen was ihm<lb/>
chri&#x017F;tlich, billig und recht &#x017F;cheint, urtheilet, &#x017F;pricht einen<lb/>
Zweifelnden los, der doch den Rechten nach verdammet<lb/>
werden &#x017F;ollte. Noch andre folgen ihrem eignen Urtheil<lb/>
und einem gewi&#x017F;&#x017F;en innerlichen Gefu&#x0364;hle, was doch oft bey<lb/>
ge&#x017F;unden Tagen, und in der Hitze der Leiden&#x017F;chaft nicht &#x017F;o<lb/>
ausfa&#x0364;llt, wie es zur andern Zeit ausfallen wu&#x0364;rde. Und<lb/>
u&#x0364;berall &#x017F;chleicht &#x017F;ich der Selb&#x017F;tbetrug, worauf zuletzt eine<lb/>
&#x017F;pa&#x0364;te Reue folgt, mit ein, wie nicht ge&#x017F;chehen wu&#x0364;rde, wenn<lb/>
man &#x017F;ich bey einem ordentlich dazu ange&#x017F;etzten Gewi&#x017F;&#x017F;ens-<lb/>
rath mit &#x017F;einen Zweifeln melden, und von dem&#x017F;elben eine<lb/>
gewi&#x017F;&#x017F;enhafte Auflo&#x0364;&#x017F;ung fordern ko&#x0364;nnte. Irrte ein &#x017F;olcher<lb/>
Rath: &#x017F;o behielte man doch immer die Beruhigung in &#x017F;ei-<lb/>
nem Gewi&#x017F;&#x017F;en, daß man einen ge&#x017F;etzma&#x0364;ßigen Weg einge-<lb/>
&#x017F;chlagen wa&#x0364;re, und &#x017F;ich, wenn man dem&#x017F;elben nichts ver-<lb/>
&#x017F;chwiegen, auch nichts vorzuwerfen ha&#x0364;tte.</p><lb/>
          <p>Ich befinde mich jetzt in einem Falle, wo mir ein &#x017F;ol-<lb/>
cher Rath be&#x017F;onders no&#x0364;thig i&#x017F;t. Ich habe eine Forderung<lb/>
an einen ver&#x017F;torbenen Mann, u&#x0364;ber de&#x017F;&#x017F;en Gu&#x0364;ter jetzt ein<lb/>
Concurs ent&#x017F;tanden. Die&#x017F;e Forderung be&#x017F;teht ur&#x017F;pru&#x0364;ng-<lb/>
lich aus Erbgeldern, womit ich allen andern Gla&#x0364;ubigern<lb/>
vorgehen wu&#x0364;rde. Ich habe aber &#x017F;pa&#x0364;ter eine gemeine Ver-<lb/>
&#x017F;chreibung darauf genommen, womit ich allen andern nach-<lb/>
&#x017F;tehen werde. Beziehe ich mich lediglich auf mein Erb-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">gelds-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[64/0078] Sollte nicht in jedem Staate gerechtigkeit in ihrer Geburt erſtickt. Viele begnuͤgen ſich damit ein ſo genanntes rechtliches Bedenken einzuholen, und ihr Gewiſſen darnach zu ſtimmen, ohne zu uͤberlegen, daß ſie auf dieſe Weiſe ihren Beichtvater ſelbſt gewaͤhlt, vielleicht nicht den ſtrengſten genommen, vielleicht manchen kleinen Umſtand verſchwiegen, und ſo nach ihre Abſolution erſchlichen haben. Andre tragen ihre Gewiſſensſcrupel, zu deren Aufloͤſung oft die groͤßte Kenntniß der Rechte erfor- dert wird, ſo gar einem Theologen vor, und dieſer der blos nach der geſunden Vernunft und demjenigen was ihm chriſtlich, billig und recht ſcheint, urtheilet, ſpricht einen Zweifelnden los, der doch den Rechten nach verdammet werden ſollte. Noch andre folgen ihrem eignen Urtheil und einem gewiſſen innerlichen Gefuͤhle, was doch oft bey geſunden Tagen, und in der Hitze der Leidenſchaft nicht ſo ausfaͤllt, wie es zur andern Zeit ausfallen wuͤrde. Und uͤberall ſchleicht ſich der Selbſtbetrug, worauf zuletzt eine ſpaͤte Reue folgt, mit ein, wie nicht geſchehen wuͤrde, wenn man ſich bey einem ordentlich dazu angeſetzten Gewiſſens- rath mit ſeinen Zweifeln melden, und von demſelben eine gewiſſenhafte Aufloͤſung fordern koͤnnte. Irrte ein ſolcher Rath: ſo behielte man doch immer die Beruhigung in ſei- nem Gewiſſen, daß man einen geſetzmaͤßigen Weg einge- ſchlagen waͤre, und ſich, wenn man demſelben nichts ver- ſchwiegen, auch nichts vorzuwerfen haͤtte. Ich befinde mich jetzt in einem Falle, wo mir ein ſol- cher Rath beſonders noͤthig iſt. Ich habe eine Forderung an einen verſtorbenen Mann, uͤber deſſen Guͤter jetzt ein Concurs entſtanden. Dieſe Forderung beſteht urſpruͤng- lich aus Erbgeldern, womit ich allen andern Glaͤubigern vorgehen wuͤrde. Ich habe aber ſpaͤter eine gemeine Ver- ſchreibung darauf genommen, womit ich allen andern nach- ſtehen werde. Beziehe ich mich lediglich auf mein Erb- gelds-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Für das DTA wurde die „Neue verbesserte und verme… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien03_1778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien03_1778/78
Zitationshilfe: Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, 1778, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien03_1778/78>, abgerufen am 26.11.2024.