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Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 4. Berlin, 1786.

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Die Artikel und die Punkte.
quisiten leicht einen Abscheu fassen, oder wenigstens im-
mer einen Gedanken von ihm behalten, der seiner Ehre
und seinem Credit nachtheilig ist. Des Richters Absicht
muß seyn, so wohl die Unschuld zu retten als den Ver-
brecher zu strafen, und keine Praxis in der Welt ist zu-
reichend dasjenige was diesen beyden großen Absichten
entgegen läuft, zu rechtfertigen. Die ganze Praxis be-
steht ohnehin aus experimentis in anima vili *), wo-
von sich gegen einen unbescholtenen Mann keine An-
wendung machen läßt; und das Verfahren kann im
Criminalproceß eben so gut wie im Civilproceß ab-
gekürzet werden, ohne daß es nöthig ist, sich dazu
der Ueberschnellung zu bedienen. Was aber ihre
gerichtliche Physiognomick anlangt: so glaube ich, daß
der plötzliche Ueberfall, womit der Richter den Jn-
quisiten zu überraschen und zu fangen sich bemühet, eben
so früh eine unschuldige als verdächtige Bestürzung her-
vorbringen könne. Vernünftige Richter haben daher von
je her in zweydeutigen Fällen die Wendung gebraucht,
daß sie diejenigen, worauf sie einen Verdacht hatten,
als Zeugen vorfordern, und sie dasjenige erzählen ließen,
was sie von der Geschichte wüßten, ohne sich weiter blos
zu geben; und erst, nachdem sie die Erzählung mit den
Anzeigen zusammen gehalten, sich einige nähere Fragen
erlaubt. Mit einem Worte, man kann eher, wenn es
die Noth erfordert, zur Haft als zur Special Jnquisi-
tion schreiten. Denn so bald man jemanden, es sey nun
über Punkte oder über Artikel, frägt: so verlangt man
von ihm, was die Juristen die Kriegesbefestigung nen-

nen.
*) Vitae necisque potesta[t]em sibi vindicarunt primum in plebeies
obscures;
AMMIAN. MARG. L. XXIII.

Die Artikel und die Punkte.
quiſiten leicht einen Abſcheu faſſen, oder wenigſtens im-
mer einen Gedanken von ihm behalten, der ſeiner Ehre
und ſeinem Credit nachtheilig iſt. Des Richters Abſicht
muß ſeyn, ſo wohl die Unſchuld zu retten als den Ver-
brecher zu ſtrafen, und keine Praxis in der Welt iſt zu-
reichend dasjenige was dieſen beyden großen Abſichten
entgegen laͤuft, zu rechtfertigen. Die ganze Praxis be-
ſteht ohnehin aus experimentis in anima vili *), wo-
von ſich gegen einen unbeſcholtenen Mann keine An-
wendung machen laͤßt; und das Verfahren kann im
Criminalproceß eben ſo gut wie im Civilproceß ab-
gekuͤrzet werden, ohne daß es noͤthig iſt, ſich dazu
der Ueberſchnellung zu bedienen. Was aber ihre
gerichtliche Phyſiognomick anlangt: ſo glaube ich, daß
der ploͤtzliche Ueberfall, womit der Richter den Jn-
quiſiten zu uͤberraſchen und zu fangen ſich bemuͤhet, eben
ſo fruͤh eine unſchuldige als verdaͤchtige Beſtuͤrzung her-
vorbringen koͤnne. Vernuͤnftige Richter haben daher von
je her in zweydeutigen Faͤllen die Wendung gebraucht,
daß ſie diejenigen, worauf ſie einen Verdacht hatten,
als Zeugen vorfordern, und ſie dasjenige erzaͤhlen ließen,
was ſie von der Geſchichte wuͤßten, ohne ſich weiter blos
zu geben; und erſt, nachdem ſie die Erzaͤhlung mit den
Anzeigen zuſammen gehalten, ſich einige naͤhere Fragen
erlaubt. Mit einem Worte, man kann eher, wenn es
die Noth erfordert, zur Haft als zur Special Jnquiſi-
tion ſchreiten. Denn ſo bald man jemanden, es ſey nun
uͤber Punkte oder uͤber Artikel, fraͤgt: ſo verlangt man
von ihm, was die Juriſten die Kriegesbefeſtigung nen-

nen.
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[128/0140] Die Artikel und die Punkte. quiſiten leicht einen Abſcheu faſſen, oder wenigſtens im- mer einen Gedanken von ihm behalten, der ſeiner Ehre und ſeinem Credit nachtheilig iſt. Des Richters Abſicht muß ſeyn, ſo wohl die Unſchuld zu retten als den Ver- brecher zu ſtrafen, und keine Praxis in der Welt iſt zu- reichend dasjenige was dieſen beyden großen Abſichten entgegen laͤuft, zu rechtfertigen. Die ganze Praxis be- ſteht ohnehin aus experimentis in anima vili *), wo- von ſich gegen einen unbeſcholtenen Mann keine An- wendung machen laͤßt; und das Verfahren kann im Criminalproceß eben ſo gut wie im Civilproceß ab- gekuͤrzet werden, ohne daß es noͤthig iſt, ſich dazu der Ueberſchnellung zu bedienen. Was aber ihre gerichtliche Phyſiognomick anlangt: ſo glaube ich, daß der ploͤtzliche Ueberfall, womit der Richter den Jn- quiſiten zu uͤberraſchen und zu fangen ſich bemuͤhet, eben ſo fruͤh eine unſchuldige als verdaͤchtige Beſtuͤrzung her- vorbringen koͤnne. Vernuͤnftige Richter haben daher von je her in zweydeutigen Faͤllen die Wendung gebraucht, daß ſie diejenigen, worauf ſie einen Verdacht hatten, als Zeugen vorfordern, und ſie dasjenige erzaͤhlen ließen, was ſie von der Geſchichte wuͤßten, ohne ſich weiter blos zu geben; und erſt, nachdem ſie die Erzaͤhlung mit den Anzeigen zuſammen gehalten, ſich einige naͤhere Fragen erlaubt. Mit einem Worte, man kann eher, wenn es die Noth erfordert, zur Haft als zur Special Jnquiſi- tion ſchreiten. Denn ſo bald man jemanden, es ſey nun uͤber Punkte oder uͤber Artikel, fraͤgt: ſo verlangt man von ihm, was die Juriſten die Kriegesbefeſtigung nen- nen. *) Vitae necisque poteſtatem ſibi vindicarunt primum in plebeies obſcures; AMMIAN. MARG. L. XXIII.

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Zitationshilfe: Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 4. Berlin, 1786, S. 128. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien04_1786/140>, abgerufen am 16.05.2024.