Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.leben der Alten ohne Weiteres jetzt als maßgebend benützt werden wollen, als wenn wir unsere modernen Anschauungen in die Erklärung der Ereig- nisse jener Zeit hineintragen. Es war tief geschmacklos und ein Beweis von großer Unwissenheit, wenn in der großen französischen Umwälzung die wirklichen oder angeblichen Lehren und Einrichtungen Griechenlands und Roms als unmittelbar anwendbar betrachtet und bei jeder Gelegenheit als Muster aufgestellt wurden. Sie stehen nothwendig als etwas ganz Fremd- artiges und in keinen organischen Zusammenhang zu Bringendes zu unserm neueren Leben. Und ist je ein Leser gewesen, welcher nicht das Gefühl hatte, daß selbst in Machiavelli's staunenswerthen Betrachtungen die antike geschichtliche Grundlage verschiedenartig und nichts beweisend sei? Davon nicht zu reden, daß der hauptsächlichste Widerwille, welcher ganze Bevöl- kerungen gegen alle Staatsplane des Communismus erfüllt, schließlich, Vielen freilich unbewußt, auf der Scheu vor der Aufgebung des erlaubt- selbstischen Daseins und vor dem Eintritte in ein allumfassendes Gesammt- leben beruht. Was Spartaner ertragen konnten und was sie mächtig machte, wäre für uns härter als Negersklaverei; und das platonische Ideal von Recht und Glückseligkeit ist uns, ganz folgerichtig mit unserer Lebensauf- fassung, der Gipfel der Unnatur und fast Barbarei. -- Man vergleiche über die Staatsansicht der Alten: Vollgraff, Antike Politik (Band II. seines Systemes der praktischen Politik); Kaltenborn, Die Vorläufer des Hugo Grotius, S. 29 ff. 5) Die Despotie wird häufig als die Entartung der unbeschränkten Fürstenherrschaft aufgefaßt, oder wohl gar letztere für gleichbedeutend mit ihr gehalten. Dies ist durchaus unrichtig. Der Grundgedanke beider Staatsarten ist ein wesentlich verschiedener. In der unbeschränkten Monarchie des Rechtsstaates ist von dem Zwecke dieser Staatsgattung nicht das Min- deste aufgegeben, und der Fürst hat alle Pflichten und nur diejenigen Rechte, welche aus der Erfüllung jenes Zweckes hervorgehen. Nicht die Durch- führung seiner subjectiven Laune und die Erreichung seines persönlichen Wohlbefindens ist hier der anerkannte Zweck des Staates; und das Uebermaß von Vertrauen, welches alle äußere Nöthigung des Staatsoberhauptes zu folgerichtigem und verfassungsmäßigem Handeln unnöthig findet, mag zwar unvorsichtig und durch die Erfahrung nicht gerechtfertigt sein, allein es ist keine Aufgebung eines Grundsatzes, und überhaupt liegt nur eine Zweck- mäßigkeits- und keine Principien-Frage dabei vor. Die Despotie ist eine durchaus selbstständige Gestaltung des Zusammenlebens der Menschen. Daß sie ein sittlich durchaus nichtswürdiges Volksleben voraussetzt, ändert nichts im Begriffe und in der Thatsache; rechtfertigt also auch nicht ein völliges Uebergehen in der Wissenschaft. Hier ist sittlicher Ekel so wenig an der Stelle, als es ein physischer bei Forschungen über Thiergattungen wäre. Aller- leben der Alten ohne Weiteres jetzt als maßgebend benützt werden wollen, als wenn wir unſere modernen Anſchauungen in die Erklärung der Ereig- niſſe jener Zeit hineintragen. Es war tief geſchmacklos und ein Beweis von großer Unwiſſenheit, wenn in der großen franzöſiſchen Umwälzung die wirklichen oder angeblichen Lehren und Einrichtungen Griechenlands und Roms als unmittelbar anwendbar betrachtet und bei jeder Gelegenheit als Muſter aufgeſtellt wurden. Sie ſtehen nothwendig als etwas ganz Fremd- artiges und in keinen organiſchen Zuſammenhang zu Bringendes zu unſerm neueren Leben. Und iſt je ein Leſer geweſen, welcher nicht das Gefühl hatte, daß ſelbſt in Machiavelli’s ſtaunenswerthen Betrachtungen die antike geſchichtliche Grundlage verſchiedenartig und nichts beweiſend ſei? Davon nicht zu reden, daß der hauptſächlichſte Widerwille, welcher ganze Bevöl- kerungen gegen alle Staatsplane des Communismus erfüllt, ſchließlich, Vielen freilich unbewußt, auf der Scheu vor der Aufgebung des erlaubt- ſelbſtiſchen Daſeins und vor dem Eintritte in ein allumfaſſendes Geſammt- leben beruht. Was Spartaner ertragen konnten und was ſie mächtig machte, wäre für uns härter als Negerſklaverei; und das platoniſche Ideal von Recht und Glückſeligkeit iſt uns, ganz folgerichtig mit unſerer Lebensauf- faſſung, der Gipfel der Unnatur und faſt Barbarei. — Man vergleiche über die Staatsanſicht der Alten: Vollgraff, Antike Politik (Band II. ſeines Syſtemes der praktiſchen Politik); Kaltenborn, Die Vorläufer des Hugo Grotius, S. 29 ff. 5) Die Despotie wird häufig als die Entartung der unbeſchränkten Fürſtenherrſchaft aufgefaßt, oder wohl gar letztere für gleichbedeutend mit ihr gehalten. Dies iſt durchaus unrichtig. Der Grundgedanke beider Staatsarten iſt ein weſentlich verſchiedener. In der unbeſchränkten Monarchie des Rechtsſtaates iſt von dem Zwecke dieſer Staatsgattung nicht das Min- deſte aufgegeben, und der Fürſt hat alle Pflichten und nur diejenigen Rechte, welche aus der Erfüllung jenes Zweckes hervorgehen. Nicht die Durch- führung ſeiner ſubjectiven Laune und die Erreichung ſeines perſönlichen Wohlbefindens iſt hier der anerkannte Zweck des Staates; und das Uebermaß von Vertrauen, welches alle äußere Nöthigung des Staatsoberhauptes zu folgerichtigem und verfaſſungsmäßigem Handeln unnöthig findet, mag zwar unvorſichtig und durch die Erfahrung nicht gerechtfertigt ſein, allein es iſt keine Aufgebung eines Grundſatzes, und überhaupt liegt nur eine Zweck- mäßigkeits- und keine Principien-Frage dabei vor. Die Despotie iſt eine durchaus ſelbſtſtändige Geſtaltung des Zuſammenlebens der Menſchen. Daß ſie ein ſittlich durchaus nichtswürdiges Volksleben vorausſetzt, ändert nichts im Begriffe und in der Thatſache; rechtfertigt alſo auch nicht ein völliges Uebergehen in der Wiſſenſchaft. Hier iſt ſittlicher Ekel ſo wenig an der Stelle, als es ein phyſiſcher bei Forſchungen über Thiergattungen wäre. Aller- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <note place="end" n="4)"><pb facs="#f0120" n="106"/> leben der Alten ohne Weiteres jetzt als maßgebend benützt werden wollen,<lb/> als wenn wir unſere modernen Anſchauungen in die Erklärung der Ereig-<lb/> niſſe jener Zeit hineintragen. Es war tief geſchmacklos und ein Beweis<lb/> von großer Unwiſſenheit, wenn in der großen franzöſiſchen Umwälzung die<lb/> wirklichen oder angeblichen Lehren und Einrichtungen Griechenlands und<lb/> Roms als unmittelbar anwendbar betrachtet und bei jeder Gelegenheit als<lb/> Muſter aufgeſtellt wurden. Sie ſtehen nothwendig als etwas ganz Fremd-<lb/> artiges und in keinen organiſchen Zuſammenhang zu Bringendes zu unſerm<lb/> neueren Leben. Und iſt je ein Leſer geweſen, welcher nicht das Gefühl<lb/> hatte, daß ſelbſt in Machiavelli’s ſtaunenswerthen Betrachtungen die antike<lb/> geſchichtliche Grundlage verſchiedenartig und nichts beweiſend ſei? Davon<lb/> nicht zu reden, daß der hauptſächlichſte Widerwille, welcher ganze Bevöl-<lb/> kerungen gegen alle Staatsplane des Communismus erfüllt, ſchließlich,<lb/> Vielen freilich unbewußt, auf der Scheu vor der Aufgebung des erlaubt-<lb/> ſelbſtiſchen Daſeins und vor dem Eintritte in ein allumfaſſendes Geſammt-<lb/> leben beruht. Was Spartaner ertragen konnten und was ſie mächtig machte,<lb/> wäre für uns härter als Negerſklaverei; und das platoniſche Ideal von<lb/> Recht und Glückſeligkeit iſt uns, ganz folgerichtig mit unſerer Lebensauf-<lb/> faſſung, der Gipfel der Unnatur und faſt Barbarei. — Man vergleiche über<lb/> die Staatsanſicht der Alten: <hi rendition="#g">Vollgraff</hi>, Antike Politik (Band <hi rendition="#aq">II.</hi> ſeines<lb/> Syſtemes der praktiſchen Politik); <hi rendition="#g">Kaltenborn</hi>, Die Vorläufer des Hugo<lb/> Grotius, S. 29 ff.</note><lb/> <note place="end" n="5)">Die <hi rendition="#g">Despotie</hi> wird häufig als die Entartung der unbeſchränkten<lb/> Fürſtenherrſchaft aufgefaßt, oder wohl gar letztere für gleichbedeutend mit<lb/> ihr gehalten. Dies iſt durchaus unrichtig. Der Grundgedanke beider<lb/> Staatsarten iſt ein weſentlich verſchiedener. In der unbeſchränkten Monarchie<lb/> des Rechtsſtaates iſt von dem Zwecke dieſer Staatsgattung nicht das Min-<lb/> deſte aufgegeben, und der Fürſt hat alle Pflichten und nur diejenigen Rechte,<lb/> welche aus der Erfüllung jenes Zweckes hervorgehen. Nicht die Durch-<lb/> führung ſeiner ſubjectiven Laune und die Erreichung ſeines perſönlichen<lb/> Wohlbefindens iſt hier der anerkannte Zweck des Staates; und das Uebermaß<lb/> von Vertrauen, welches alle äußere Nöthigung des Staatsoberhauptes zu<lb/> folgerichtigem und verfaſſungsmäßigem Handeln unnöthig findet, mag zwar<lb/> unvorſichtig und durch die Erfahrung nicht gerechtfertigt ſein, allein es iſt<lb/> keine Aufgebung eines Grundſatzes, und überhaupt liegt nur eine Zweck-<lb/> mäßigkeits- und keine Principien-Frage dabei vor. Die Despotie iſt eine<lb/> durchaus ſelbſtſtändige Geſtaltung des Zuſammenlebens der Menſchen. Daß<lb/> ſie ein ſittlich durchaus nichtswürdiges Volksleben vorausſetzt, ändert nichts<lb/> im Begriffe und in der Thatſache; rechtfertigt alſo auch nicht ein völliges<lb/> Uebergehen in der Wiſſenſchaft. Hier iſt ſittlicher Ekel ſo wenig an der<lb/> Stelle, als es ein phyſiſcher bei Forſchungen über Thiergattungen wäre. Aller-<lb/></note> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [106/0120]
⁴⁾ leben der Alten ohne Weiteres jetzt als maßgebend benützt werden wollen,
als wenn wir unſere modernen Anſchauungen in die Erklärung der Ereig-
niſſe jener Zeit hineintragen. Es war tief geſchmacklos und ein Beweis
von großer Unwiſſenheit, wenn in der großen franzöſiſchen Umwälzung die
wirklichen oder angeblichen Lehren und Einrichtungen Griechenlands und
Roms als unmittelbar anwendbar betrachtet und bei jeder Gelegenheit als
Muſter aufgeſtellt wurden. Sie ſtehen nothwendig als etwas ganz Fremd-
artiges und in keinen organiſchen Zuſammenhang zu Bringendes zu unſerm
neueren Leben. Und iſt je ein Leſer geweſen, welcher nicht das Gefühl
hatte, daß ſelbſt in Machiavelli’s ſtaunenswerthen Betrachtungen die antike
geſchichtliche Grundlage verſchiedenartig und nichts beweiſend ſei? Davon
nicht zu reden, daß der hauptſächlichſte Widerwille, welcher ganze Bevöl-
kerungen gegen alle Staatsplane des Communismus erfüllt, ſchließlich,
Vielen freilich unbewußt, auf der Scheu vor der Aufgebung des erlaubt-
ſelbſtiſchen Daſeins und vor dem Eintritte in ein allumfaſſendes Geſammt-
leben beruht. Was Spartaner ertragen konnten und was ſie mächtig machte,
wäre für uns härter als Negerſklaverei; und das platoniſche Ideal von
Recht und Glückſeligkeit iſt uns, ganz folgerichtig mit unſerer Lebensauf-
faſſung, der Gipfel der Unnatur und faſt Barbarei. — Man vergleiche über
die Staatsanſicht der Alten: Vollgraff, Antike Politik (Band II. ſeines
Syſtemes der praktiſchen Politik); Kaltenborn, Die Vorläufer des Hugo
Grotius, S. 29 ff.
⁵⁾ Die Despotie wird häufig als die Entartung der unbeſchränkten
Fürſtenherrſchaft aufgefaßt, oder wohl gar letztere für gleichbedeutend mit
ihr gehalten. Dies iſt durchaus unrichtig. Der Grundgedanke beider
Staatsarten iſt ein weſentlich verſchiedener. In der unbeſchränkten Monarchie
des Rechtsſtaates iſt von dem Zwecke dieſer Staatsgattung nicht das Min-
deſte aufgegeben, und der Fürſt hat alle Pflichten und nur diejenigen Rechte,
welche aus der Erfüllung jenes Zweckes hervorgehen. Nicht die Durch-
führung ſeiner ſubjectiven Laune und die Erreichung ſeines perſönlichen
Wohlbefindens iſt hier der anerkannte Zweck des Staates; und das Uebermaß
von Vertrauen, welches alle äußere Nöthigung des Staatsoberhauptes zu
folgerichtigem und verfaſſungsmäßigem Handeln unnöthig findet, mag zwar
unvorſichtig und durch die Erfahrung nicht gerechtfertigt ſein, allein es iſt
keine Aufgebung eines Grundſatzes, und überhaupt liegt nur eine Zweck-
mäßigkeits- und keine Principien-Frage dabei vor. Die Despotie iſt eine
durchaus ſelbſtſtändige Geſtaltung des Zuſammenlebens der Menſchen. Daß
ſie ein ſittlich durchaus nichtswürdiges Volksleben vorausſetzt, ändert nichts
im Begriffe und in der Thatſache; rechtfertigt alſo auch nicht ein völliges
Uebergehen in der Wiſſenſchaft. Hier iſt ſittlicher Ekel ſo wenig an der
Stelle, als es ein phyſiſcher bei Forſchungen über Thiergattungen wäre. Aller-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |