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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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Philosophie waren die Griechen; die Römer schlossen sich nur
als Schüler und Nachfolger an. Ein günstiges Geschick hat
die Hauptschriften beider Völker erhalten, nämlich Platon's
beide Werke "vom Staate" und "von den Gesetzen"; die "Po-
litik" des Aristoteles; endlich Cicero's "Abhandlung über
den Staat," (letztere freilich nur verstümmelt.) Es ist somit
eine Kenntniß und Beurtheilung der Leistungen des classischen
Alterthums in diesem Fache wohl möglich.

Wie dies zu jeder Zeit geschieht und wie es auch gar nicht
anders wünschenswerth ist, geht das philosophische Staatsrecht
der Griechen und Römer nicht etwa von einer rein subjectiven
Auffassung des einzelnen Schriftstellers und von einer indi-
viduellen Lebensanschauung aus; sondern es ruht wesentlich
auf der herrschenden Volksansicht von Leben und Staat, und
sucht nur diese zu verallgemeinern und wissenschaftlich zu be-
gründen. Zum Verständniße der Literatur ist daher ein Begreifen
jener Ansicht nothwendig. Es sind nun aber hauptsächlich
zwei Punkte der hellenischen Lebensanschauung maßgebend.
Der erste ist der Mangel einer Achtung des Menschen als
solchen. Nur der Bürger, insoferne und weil er an der Leitung
des Gesammtwesens Antheil nimmt, hat einen Werth; diesem
Verhältnisse aber wird sowohl die Individualität und das an-
geborene Recht des Berufenen selbst, als, wenn es nöthig ist,
das Recht Anderer zum Opfer gebracht. Bei dem Bürger geht
der Mensch ganz auf im Staatstheilnehmer; Fremde aber sind
rechtlos, die arbeitenden Classen blose Werkzeuge, Sclaven einer
Nothwendigkeit. Der andere Punkt ist die Auffassung des
Staates nicht als einer Ordnung des Zusammenlebens, sondern
als ein Gesammtleben. Der einzelne Bürger verfolgt im Staate
keine eigenen und selbstständigen Zwecke, sondern er ist ein or-
ganischer Bestandtheil des Ganzen und lebt nur für die Zwecke
und in den Zwecken desselben. Das Wohl des Ganzen ist

Philoſophie waren die Griechen; die Römer ſchloſſen ſich nur
als Schüler und Nachfolger an. Ein günſtiges Geſchick hat
die Hauptſchriften beider Völker erhalten, nämlich Platon’s
beide Werke „vom Staate“ und „von den Geſetzen“; die „Po-
litik“ des Ariſtoteles; endlich Cicero’s „Abhandlung über
den Staat,“ (letztere freilich nur verſtümmelt.) Es iſt ſomit
eine Kenntniß und Beurtheilung der Leiſtungen des claſſiſchen
Alterthums in dieſem Fache wohl möglich.

Wie dies zu jeder Zeit geſchieht und wie es auch gar nicht
anders wünſchenswerth iſt, geht das philoſophiſche Staatsrecht
der Griechen und Römer nicht etwa von einer rein ſubjectiven
Auffaſſung des einzelnen Schriftſtellers und von einer indi-
viduellen Lebensanſchauung aus; ſondern es ruht weſentlich
auf der herrſchenden Volksanſicht von Leben und Staat, und
ſucht nur dieſe zu verallgemeinern und wiſſenſchaftlich zu be-
gründen. Zum Verſtändniße der Literatur iſt daher ein Begreifen
jener Anſicht nothwendig. Es ſind nun aber hauptſächlich
zwei Punkte der helleniſchen Lebensanſchauung maßgebend.
Der erſte iſt der Mangel einer Achtung des Menſchen als
ſolchen. Nur der Bürger, inſoferne und weil er an der Leitung
des Geſammtweſens Antheil nimmt, hat einen Werth; dieſem
Verhältniſſe aber wird ſowohl die Individualität und das an-
geborene Recht des Berufenen ſelbſt, als, wenn es nöthig iſt,
das Recht Anderer zum Opfer gebracht. Bei dem Bürger geht
der Menſch ganz auf im Staatstheilnehmer; Fremde aber ſind
rechtlos, die arbeitenden Claſſen bloſe Werkzeuge, Sclaven einer
Nothwendigkeit. Der andere Punkt iſt die Auffaſſung des
Staates nicht als einer Ordnung des Zuſammenlebens, ſondern
als ein Geſammtleben. Der einzelne Bürger verfolgt im Staate
keine eigenen und ſelbſtſtändigen Zwecke, ſondern er iſt ein or-
ganiſcher Beſtandtheil des Ganzen und lebt nur für die Zwecke
und in den Zwecken desſelben. Das Wohl des Ganzen iſt

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[175/0189] Philoſophie waren die Griechen; die Römer ſchloſſen ſich nur als Schüler und Nachfolger an. Ein günſtiges Geſchick hat die Hauptſchriften beider Völker erhalten, nämlich Platon’s beide Werke „vom Staate“ und „von den Geſetzen“; die „Po- litik“ des Ariſtoteles; endlich Cicero’s „Abhandlung über den Staat,“ (letztere freilich nur verſtümmelt.) Es iſt ſomit eine Kenntniß und Beurtheilung der Leiſtungen des claſſiſchen Alterthums in dieſem Fache wohl möglich. Wie dies zu jeder Zeit geſchieht und wie es auch gar nicht anders wünſchenswerth iſt, geht das philoſophiſche Staatsrecht der Griechen und Römer nicht etwa von einer rein ſubjectiven Auffaſſung des einzelnen Schriftſtellers und von einer indi- viduellen Lebensanſchauung aus; ſondern es ruht weſentlich auf der herrſchenden Volksanſicht von Leben und Staat, und ſucht nur dieſe zu verallgemeinern und wiſſenſchaftlich zu be- gründen. Zum Verſtändniße der Literatur iſt daher ein Begreifen jener Anſicht nothwendig. Es ſind nun aber hauptſächlich zwei Punkte der helleniſchen Lebensanſchauung maßgebend. Der erſte iſt der Mangel einer Achtung des Menſchen als ſolchen. Nur der Bürger, inſoferne und weil er an der Leitung des Geſammtweſens Antheil nimmt, hat einen Werth; dieſem Verhältniſſe aber wird ſowohl die Individualität und das an- geborene Recht des Berufenen ſelbſt, als, wenn es nöthig iſt, das Recht Anderer zum Opfer gebracht. Bei dem Bürger geht der Menſch ganz auf im Staatstheilnehmer; Fremde aber ſind rechtlos, die arbeitenden Claſſen bloſe Werkzeuge, Sclaven einer Nothwendigkeit. Der andere Punkt iſt die Auffaſſung des Staates nicht als einer Ordnung des Zuſammenlebens, ſondern als ein Geſammtleben. Der einzelne Bürger verfolgt im Staate keine eigenen und ſelbſtſtändigen Zwecke, ſondern er iſt ein or- ganiſcher Beſtandtheil des Ganzen und lebt nur für die Zwecke und in den Zwecken desſelben. Das Wohl des Ganzen iſt

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/189>, abgerufen am 23.11.2024.