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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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Rechtes hinsichtlich der einem Staate zustehenden Ausdehnung
seines Gebietes und seiner Macht
. Das System
des Gleichgewichtes ist hiernach nicht blos ein politischer Wunsch
und ein vortheilhafter Zustand, sondern ein förmliches Rechts-
verhältniß, dessen Aufrechterhaltung jeder andere Staat ver-
langen und im Nothfalle erzwingen kann, und dessen Verletzung
sogar ein Rechtsgrund zu einer allgemeinen Verbindung der
übrigen Staaten gegen die einseitig vorgehende Macht abgibt. --
Es sind bei diesem Systeme früher nur die Besitzungen in Europa
selbst und in dessen nächster Nähe in Betrachtung gekommen,
Erwerbungen in andern Welttheilen dagegen der Lust und
Gelegenheit des Einzelnen freigestellt geblieben. Ein ähn-
liches, aber allerdings noch in der ersten Entwickelung begriffenes,
System bildet sich jedoch allmälig in Amerika, wo wenigstens von
Seiten der Vereinigten Staaten die Erwerbung neuer Be-
sitzungen von Seiten europäischer Staaten als unerlaubt be-
hauptet wird 2).

Hinsichtlich des Cäremoniells und der Ehrenrechte
erkennt das positive Völkerrecht eine Gleichheit unter sämmt-
lichen Staaten nicht an; vielmehr findet eine bestimmte Rang-
verschiedenheit statt. Dieselbe ist allerdings wesentlich auf die
Thatsache der Macht gegründet, allein sie hängt doch auch von
dem verschiedenen Titel der Staatsoberhäupter und von dem
Alter desselben ab. Die Haupteintheilung ist die in Staaten
königlichen Ranges und in solche, welchen dieser nicht gebührt.
Zu den ersten gehören alle Monarchieen von den Kaiserthümern
bis zu den Großherzogthümern; auch ist die Gleichberechti-
gung mächtigen Republiken niemals versagt worden. -- Nicht
zu verwechseln übrigens mit diesen Rangbestimmungen ist die
Eintheilung in Großmächte und in Staaten zweiten, dritten
u. s. w. Ranges, welche nur ein thatsächliches Machtverhältniß,
nicht aber einen bestimmten Rang mit daran geknüpften for-

Rechtes hinſichtlich der einem Staate zuſtehenden Ausdehnung
ſeines Gebietes und ſeiner Macht
. Das Syſtem
des Gleichgewichtes iſt hiernach nicht blos ein politiſcher Wunſch
und ein vortheilhafter Zuſtand, ſondern ein förmliches Rechts-
verhältniß, deſſen Aufrechterhaltung jeder andere Staat ver-
langen und im Nothfalle erzwingen kann, und deſſen Verletzung
ſogar ein Rechtsgrund zu einer allgemeinen Verbindung der
übrigen Staaten gegen die einſeitig vorgehende Macht abgibt. —
Es ſind bei dieſem Syſteme früher nur die Beſitzungen in Europa
ſelbſt und in deſſen nächſter Nähe in Betrachtung gekommen,
Erwerbungen in andern Welttheilen dagegen der Luſt und
Gelegenheit des Einzelnen freigeſtellt geblieben. Ein ähn-
liches, aber allerdings noch in der erſten Entwickelung begriffenes,
Syſtem bildet ſich jedoch allmälig in Amerika, wo wenigſtens von
Seiten der Vereinigten Staaten die Erwerbung neuer Be-
ſitzungen von Seiten europäiſcher Staaten als unerlaubt be-
hauptet wird 2).

Hinſichtlich des Cäremoniells und der Ehrenrechte
erkennt das poſitive Völkerrecht eine Gleichheit unter ſämmt-
lichen Staaten nicht an; vielmehr findet eine beſtimmte Rang-
verſchiedenheit ſtatt. Dieſelbe iſt allerdings weſentlich auf die
Thatſache der Macht gegründet, allein ſie hängt doch auch von
dem verſchiedenen Titel der Staatsoberhäupter und von dem
Alter deſſelben ab. Die Haupteintheilung iſt die in Staaten
königlichen Ranges und in ſolche, welchen dieſer nicht gebührt.
Zu den erſten gehören alle Monarchieen von den Kaiſerthümern
bis zu den Großherzogthümern; auch iſt die Gleichberechti-
gung mächtigen Republiken niemals verſagt worden. — Nicht
zu verwechſeln übrigens mit dieſen Rangbeſtimmungen iſt die
Eintheilung in Großmächte und in Staaten zweiten, dritten
u. ſ. w. Ranges, welche nur ein thatſächliches Machtverhältniß,
nicht aber einen beſtimmten Rang mit daran geknüpften for-

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[475/0489] Rechtes hinſichtlich der einem Staate zuſtehenden Ausdehnung ſeines Gebietes und ſeiner Macht. Das Syſtem des Gleichgewichtes iſt hiernach nicht blos ein politiſcher Wunſch und ein vortheilhafter Zuſtand, ſondern ein förmliches Rechts- verhältniß, deſſen Aufrechterhaltung jeder andere Staat ver- langen und im Nothfalle erzwingen kann, und deſſen Verletzung ſogar ein Rechtsgrund zu einer allgemeinen Verbindung der übrigen Staaten gegen die einſeitig vorgehende Macht abgibt. — Es ſind bei dieſem Syſteme früher nur die Beſitzungen in Europa ſelbſt und in deſſen nächſter Nähe in Betrachtung gekommen, Erwerbungen in andern Welttheilen dagegen der Luſt und Gelegenheit des Einzelnen freigeſtellt geblieben. Ein ähn- liches, aber allerdings noch in der erſten Entwickelung begriffenes, Syſtem bildet ſich jedoch allmälig in Amerika, wo wenigſtens von Seiten der Vereinigten Staaten die Erwerbung neuer Be- ſitzungen von Seiten europäiſcher Staaten als unerlaubt be- hauptet wird 2). Hinſichtlich des Cäremoniells und der Ehrenrechte erkennt das poſitive Völkerrecht eine Gleichheit unter ſämmt- lichen Staaten nicht an; vielmehr findet eine beſtimmte Rang- verſchiedenheit ſtatt. Dieſelbe iſt allerdings weſentlich auf die Thatſache der Macht gegründet, allein ſie hängt doch auch von dem verſchiedenen Titel der Staatsoberhäupter und von dem Alter deſſelben ab. Die Haupteintheilung iſt die in Staaten königlichen Ranges und in ſolche, welchen dieſer nicht gebührt. Zu den erſten gehören alle Monarchieen von den Kaiſerthümern bis zu den Großherzogthümern; auch iſt die Gleichberechti- gung mächtigen Republiken niemals verſagt worden. — Nicht zu verwechſeln übrigens mit dieſen Rangbeſtimmungen iſt die Eintheilung in Großmächte und in Staaten zweiten, dritten u. ſ. w. Ranges, welche nur ein thatſächliches Machtverhältniß, nicht aber einen beſtimmten Rang mit daran geknüpften for-

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 475. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/489>, abgerufen am 24.11.2024.