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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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verschiedenen Auffassungen durch Gegensatz und wechselseitiges
Eingreifen erläutert, wenn auch die rein vernünftige Auffassung
dargelegt und neben das Erzwingbare auch das nur Wün-
schenswerthe gestellt ist. So gewiß zu einem vollendeten Systeme
der Staatswissenschaft außer dem kahlen Rechte auch die Lehre der
Klugheit, die Politik, gehört: ebenso sicher muß die Moral in ihren
Forderungen gehört werden3) Es ist also weder ein Beweis
von wissenschaftlicher Umsicht, noch von allgemeiner menschlicher
Gesittigung, daß die Staats-Sittenlehre, die schon im Leben
geringere Berücksichtigung findet als das Recht und die Klug-
heit, von der Theorie vollständig vernachlässigt zu sein pflegt;
noch ist es eine Entschuldigung oder ein genügender Ersatz,
wenn die rein philosophischen und die theologischen Moralsysteme
auch die Pflichten des Menschen im Staate beachten 4).

1) Folgende Beispiele mögen die Verschiedenheit des Rechtes und der
Sittlichkeit in Beziehung auf das Staatsleben zeigen. Unzweifelhaft giebt
das Recht einem constitutionellen Monarchen die Initiative bei Gesetzen und
das Veto bei Anträgen der Stände; und es kann vom Rechts-Standpunkte
aus nichts eingewendet werden, wenn die Initiative häufig und lästig
oder aber auch allzu spärlich gebraucht wird, während die Ausübung des
Veto gegenüber von bloßen Bitten (ohne strenges Recht) gar keine rechtliche
Grenze hat. Dagegen verlangt die Sittenlehre eine gewissenhafte Benützung
dieser fürstlichen Befugnisse; also eine bereitwillige und wohlüberlegte An-
wendung der Initiative in allen Fällen, in welchen durch ein neues Gesetz
etwas Gutes gestiftet werden kann, und eine Verzichtung auf das Veto, wo
eine Bitte vernünftig und billig ist. Eine entgegengesetzte Handlungsweise,
bei welcher Eigensinn, Eigennutzen, Trägheit, Rachsucht u. s. w. der Be-
weggrund zur Ausübung des Rechtes wäre, ist zwar nicht unrecht, aber
höchst unsittlich. = Das Recht hat ferner vom Bürger nichts zu verlangen,
als daß er die gesetzlichen Verbote achte und die gesetzlichen Leistungen er-
fülle; die Moral aber verlangt von ihm noch, je nach den Umständen, frei-
willige Förderung des allgemeinen Besten, Muth zur Beseitigung von Ge-
fahren und zu Bekämpfung von Unfug, ungezwungene Opfer in Zeiten der
Noth und Gefahr. -- Ein Staatsbeamter endlich, welcher nur die in seinem
Dienstvertrage verabredete Thätigkeit entwickelt, welcher den Staat nicht be-
trügt und sich vom Unterthanen nicht bestechen läßt, erfüllt allerdings seine
Rechtspflicht, ist aber dabei doch nur ein gemeiner Miethling, wenn er

verſchiedenen Auffaſſungen durch Gegenſatz und wechſelſeitiges
Eingreifen erläutert, wenn auch die rein vernünftige Auffaſſung
dargelegt und neben das Erzwingbare auch das nur Wün-
ſchenswerthe geſtellt iſt. So gewiß zu einem vollendeten Syſteme
der Staatswiſſenſchaft außer dem kahlen Rechte auch die Lehre der
Klugheit, die Politik, gehört: ebenſo ſicher muß die Moral in ihren
Forderungen gehört werden3) Es iſt alſo weder ein Beweis
von wiſſenſchaftlicher Umſicht, noch von allgemeiner menſchlicher
Geſittigung, daß die Staats-Sittenlehre, die ſchon im Leben
geringere Berückſichtigung findet als das Recht und die Klug-
heit, von der Theorie vollſtändig vernachläſſigt zu ſein pflegt;
noch iſt es eine Entſchuldigung oder ein genügender Erſatz,
wenn die rein philoſophiſchen und die theologiſchen Moralſyſteme
auch die Pflichten des Menſchen im Staate beachten 4).

1) Folgende Beiſpiele mögen die Verſchiedenheit des Rechtes und der
Sittlichkeit in Beziehung auf das Staatsleben zeigen. Unzweifelhaft giebt
das Recht einem conſtitutionellen Monarchen die Initiative bei Geſetzen und
das Veto bei Anträgen der Stände; und es kann vom Rechts-Standpunkte
aus nichts eingewendet werden, wenn die Initiative häufig und läſtig
oder aber auch allzu ſpärlich gebraucht wird, während die Ausübung des
Veto gegenüber von bloßen Bitten (ohne ſtrenges Recht) gar keine rechtliche
Grenze hat. Dagegen verlangt die Sittenlehre eine gewiſſenhafte Benützung
dieſer fürſtlichen Befugniſſe; alſo eine bereitwillige und wohlüberlegte An-
wendung der Initiative in allen Fällen, in welchen durch ein neues Geſetz
etwas Gutes geſtiftet werden kann, und eine Verzichtung auf das Veto, wo
eine Bitte vernünftig und billig iſt. Eine entgegengeſetzte Handlungsweiſe,
bei welcher Eigenſinn, Eigennutzen, Trägheit, Rachſucht u. ſ. w. der Be-
weggrund zur Ausübung des Rechtes wäre, iſt zwar nicht unrecht, aber
höchſt unſittlich. = Das Recht hat ferner vom Bürger nichts zu verlangen,
als daß er die geſetzlichen Verbote achte und die geſetzlichen Leiſtungen er-
fülle; die Moral aber verlangt von ihm noch, je nach den Umſtänden, frei-
willige Förderung des allgemeinen Beſten, Muth zur Beſeitigung von Ge-
fahren und zu Bekämpfung von Unfug, ungezwungene Opfer in Zeiten der
Noth und Gefahr. — Ein Staatsbeamter endlich, welcher nur die in ſeinem
Dienſtvertrage verabredete Thätigkeit entwickelt, welcher den Staat nicht be-
trügt und ſich vom Unterthanen nicht beſtechen läßt, erfüllt allerdings ſeine
Rechtspflicht, iſt aber dabei doch nur ein gemeiner Miethling, wenn er
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[503/0517] verſchiedenen Auffaſſungen durch Gegenſatz und wechſelſeitiges Eingreifen erläutert, wenn auch die rein vernünftige Auffaſſung dargelegt und neben das Erzwingbare auch das nur Wün- ſchenswerthe geſtellt iſt. So gewiß zu einem vollendeten Syſteme der Staatswiſſenſchaft außer dem kahlen Rechte auch die Lehre der Klugheit, die Politik, gehört: ebenſo ſicher muß die Moral in ihren Forderungen gehört werden3) Es iſt alſo weder ein Beweis von wiſſenſchaftlicher Umſicht, noch von allgemeiner menſchlicher Geſittigung, daß die Staats-Sittenlehre, die ſchon im Leben geringere Berückſichtigung findet als das Recht und die Klug- heit, von der Theorie vollſtändig vernachläſſigt zu ſein pflegt; noch iſt es eine Entſchuldigung oder ein genügender Erſatz, wenn die rein philoſophiſchen und die theologiſchen Moralſyſteme auch die Pflichten des Menſchen im Staate beachten 4). ¹⁾ Folgende Beiſpiele mögen die Verſchiedenheit des Rechtes und der Sittlichkeit in Beziehung auf das Staatsleben zeigen. Unzweifelhaft giebt das Recht einem conſtitutionellen Monarchen die Initiative bei Geſetzen und das Veto bei Anträgen der Stände; und es kann vom Rechts-Standpunkte aus nichts eingewendet werden, wenn die Initiative häufig und läſtig oder aber auch allzu ſpärlich gebraucht wird, während die Ausübung des Veto gegenüber von bloßen Bitten (ohne ſtrenges Recht) gar keine rechtliche Grenze hat. Dagegen verlangt die Sittenlehre eine gewiſſenhafte Benützung dieſer fürſtlichen Befugniſſe; alſo eine bereitwillige und wohlüberlegte An- wendung der Initiative in allen Fällen, in welchen durch ein neues Geſetz etwas Gutes geſtiftet werden kann, und eine Verzichtung auf das Veto, wo eine Bitte vernünftig und billig iſt. Eine entgegengeſetzte Handlungsweiſe, bei welcher Eigenſinn, Eigennutzen, Trägheit, Rachſucht u. ſ. w. der Be- weggrund zur Ausübung des Rechtes wäre, iſt zwar nicht unrecht, aber höchſt unſittlich. = Das Recht hat ferner vom Bürger nichts zu verlangen, als daß er die geſetzlichen Verbote achte und die geſetzlichen Leiſtungen er- fülle; die Moral aber verlangt von ihm noch, je nach den Umſtänden, frei- willige Förderung des allgemeinen Beſten, Muth zur Beſeitigung von Ge- fahren und zu Bekämpfung von Unfug, ungezwungene Opfer in Zeiten der Noth und Gefahr. — Ein Staatsbeamter endlich, welcher nur die in ſeinem Dienſtvertrage verabredete Thätigkeit entwickelt, welcher den Staat nicht be- trügt und ſich vom Unterthanen nicht beſtechen läßt, erfüllt allerdings ſeine Rechtspflicht, iſt aber dabei doch nur ein gemeiner Miethling, wenn er

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 503. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/517>, abgerufen am 24.11.2024.