Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.eben weil das menschliche Leben im Staate nicht blos Einer Gattung von Grundsätzen unterliegt, so kann auch das allgemeine Wesen desselben nicht genügend und ohne erzwungene Verschiebungen in Einem jener be- sonderen Lehrgebäude erörtert werden, sondern bedarf es hierzu einer um- fassenderen Grundlage. Diese allgemeine Darlegung der Natur des Staates soll nun aber eben die allgemeine Staatslehre geben. Gewöhnlich werden diese Grundbegriffe im philosophischen Staatsrechte untergebracht; aber dann bleibt nur die Wahl, sie entweder durch einseitige Beachtung des Rechts- standpunktes zu verstümmeln, oder aber in einer angeblich rechtlichen Dis- ciplin Sätze vorzutragen und Betrachtungen anzustellen, welche weder eine rechtliche Grundlage, noch eine Bedeutung für das Recht haben. Nur solche Staatslehrer, welchen der Staat überhaupt ausschließlich Rechtsanstalt ist, können folgerichtig auch sein ganzes Wesen lediglich aus dem Stand- punkte des Rechtes auffassen. Daher denn allerdings unter der Herrschaft der Kant'schen Schule von Allgemeiner Staatslehre nichts vernommen wurde. Allein eben dieser Standpunkt ist ein ungenügender und überwundener. 8) Die Staatssittenlehre ist allerdings ein verhältnißmäßig selten be- arbeiteter Theil der Staatswissenschaften; und es möchte somit scheinen, als verstoße deren Aufnahme gegen den aufgestellten Grundsatz, daß die herkömmlichen Eintheilungen beizubehalten seien. Da jedoch, (wie unten, § 76 f.), nachgewiesen werden wird, die Erörterung der staatlichen Verhältnisse aus dem Gesichtspunkte der Sittlichkeit ein nothwendiger Bestandtheil einer vollständigen wissenschaftlichen Bearbeitung des gesammten Staatslebens ist, so ist eine Berücksichtigung der häufig vernachläßigten Lehre kein Fehler, sondern vielmehr eine doppelte Pflicht. Es soll nur vermeidliche Verwirrung vermieden, nicht aber Lückenhaftigkeit beibehalten werden. § 10. 3. Die Literatur der Encyclopädieen der Staatswissenschaften. Die Zahl der Schriften, welche eine vollständige Uebersicht eben weil das menſchliche Leben im Staate nicht blos Einer Gattung von Grundſätzen unterliegt, ſo kann auch das allgemeine Weſen desſelben nicht genügend und ohne erzwungene Verſchiebungen in Einem jener be- ſonderen Lehrgebäude erörtert werden, ſondern bedarf es hierzu einer um- faſſenderen Grundlage. Dieſe allgemeine Darlegung der Natur des Staates ſoll nun aber eben die allgemeine Staatslehre geben. Gewöhnlich werden dieſe Grundbegriffe im philoſophiſchen Staatsrechte untergebracht; aber dann bleibt nur die Wahl, ſie entweder durch einſeitige Beachtung des Rechts- ſtandpunktes zu verſtümmeln, oder aber in einer angeblich rechtlichen Dis- ciplin Sätze vorzutragen und Betrachtungen anzuſtellen, welche weder eine rechtliche Grundlage, noch eine Bedeutung für das Recht haben. Nur ſolche Staatslehrer, welchen der Staat überhaupt ausſchließlich Rechtsanſtalt iſt, können folgerichtig auch ſein ganzes Weſen lediglich aus dem Stand- punkte des Rechtes auffaſſen. Daher denn allerdings unter der Herrſchaft der Kant’ſchen Schule von Allgemeiner Staatslehre nichts vernommen wurde. Allein eben dieſer Standpunkt iſt ein ungenügender und überwundener. 8) Die Staatsſittenlehre iſt allerdings ein verhältnißmäßig ſelten be- arbeiteter Theil der Staatswiſſenſchaften; und es möchte ſomit ſcheinen, als verſtoße deren Aufnahme gegen den aufgeſtellten Grundſatz, daß die herkömmlichen Eintheilungen beizubehalten ſeien. Da jedoch, (wie unten, § 76 f.), nachgewieſen werden wird, die Erörterung der ſtaatlichen Verhältniſſe aus dem Geſichtspunkte der Sittlichkeit ein nothwendiger Beſtandtheil einer vollſtändigen wiſſenſchaftlichen Bearbeitung des geſammten Staatslebens iſt, ſo iſt eine Berückſichtigung der häufig vernachläßigten Lehre kein Fehler, ſondern vielmehr eine doppelte Pflicht. Es ſoll nur vermeidliche Verwirrung vermieden, nicht aber Lückenhaftigkeit beibehalten werden. § 10. 3. Die Literatur der Encyclopädieen der Staatswiſſenſchaften. 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⁷⁾ eben weil das menſchliche Leben im Staate nicht blos Einer Gattung von
Grundſätzen unterliegt, ſo kann auch das allgemeine Weſen desſelben
nicht genügend und ohne erzwungene Verſchiebungen in Einem jener be-
ſonderen Lehrgebäude erörtert werden, ſondern bedarf es hierzu einer um-
faſſenderen Grundlage. Dieſe allgemeine Darlegung der Natur des Staates
ſoll nun aber eben die allgemeine Staatslehre geben. Gewöhnlich werden dieſe
Grundbegriffe im philoſophiſchen Staatsrechte untergebracht; aber dann
bleibt nur die Wahl, ſie entweder durch einſeitige Beachtung des Rechts-
ſtandpunktes zu verſtümmeln, oder aber in einer angeblich rechtlichen Dis-
ciplin Sätze vorzutragen und Betrachtungen anzuſtellen, welche weder eine
rechtliche Grundlage, noch eine Bedeutung für das Recht haben. Nur
ſolche Staatslehrer, welchen der Staat überhaupt ausſchließlich Rechtsanſtalt
iſt, können folgerichtig auch ſein ganzes Weſen lediglich aus dem Stand-
punkte des Rechtes auffaſſen. Daher denn allerdings unter der Herrſchaft
der Kant’ſchen Schule von Allgemeiner Staatslehre nichts vernommen wurde.
Allein eben dieſer Standpunkt iſt ein ungenügender und überwundener.
⁸⁾ Die Staatsſittenlehre iſt allerdings ein verhältnißmäßig ſelten be-
arbeiteter Theil der Staatswiſſenſchaften; und es möchte ſomit ſcheinen,
als verſtoße deren Aufnahme gegen den aufgeſtellten Grundſatz, daß die
herkömmlichen Eintheilungen beizubehalten ſeien. Da jedoch, (wie unten,
§ 76 f.), nachgewieſen werden wird, die Erörterung der ſtaatlichen Verhältniſſe
aus dem Geſichtspunkte der Sittlichkeit ein nothwendiger Beſtandtheil einer
vollſtändigen wiſſenſchaftlichen Bearbeitung des geſammten Staatslebens iſt,
ſo iſt eine Berückſichtigung der häufig vernachläßigten Lehre kein Fehler,
ſondern vielmehr eine doppelte Pflicht. Es ſoll nur vermeidliche Verwirrung
vermieden, nicht aber Lückenhaftigkeit beibehalten werden.
§ 10.
3. Die Literatur der Encyclopädieen der Staatswiſſenſchaften.
Die Zahl der Schriften, welche eine vollſtändige Ueberſicht
über die Staatswiſſenſchaften zu geben beabſichtigen, iſt ziemlich
groß, namentlich der von Deutſchen verfaßten; allein ein großer
Theil derſelben iſt werthlos, entweder weil ſie gleich von An-
fang an falſch angelegt waren, oder weil ſie durch Weiteraus-
bildung der Wiſſenſchaft ungenügend geworden ſind. Deßhalb
wäre eine bibliographiſch vollſtändige Aufzählung derſelben hier
zwecklos. Es genügt an einer Kenntniß der mehr oder minder
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